Nero wählt das geringere Übel (3)

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Icy für den Rest des Abends absagen war der leichtere Teil, auch wenn dessen todtraurige Smileys ihn in einer Art missmutig stimmten, die Nero nicht gewohnt war. Der schwerere war, in Tanners Zimmer hineinzukommen und seine Vorräte zu entfernen. Nero hatte die Beteuerungen überhört von wegen, Tanner hätte schon alles aufgebraucht, und Tanner würde es selbst wegwerfen, und es sei nur noch so wenig, dass könnte man auch ruhig ignorieren.

Der Junge hatte Nero mit grimmiger Miene und einem ‚Ich habs dir doch gesagt'-Gesichtsausdruck beobachtet, als der die Matratze umgedreht und sich durch Schmutzwäsche gewühlt hatte, und als er die versiegelten Beutel schließlich aus dem Spülkasten im Bad fischte, war Tanner das dritte Mal an diesem Tag auf ihn losgegangen.

Dieses Mal hatte er Nero kalt erwischt, und bevor der seinen Ellbogen nach hinten stoßen konnte, war sein Kopf schon gegen die Wand gerammt worden, wo sich Fliesen und Putz trafen.
Die Abschürfung zog sich geradlinig am Rand von Neros angeschwollenen linken Auge vorbei. Dunkle Reste von verkrustetem Blut klebten an der Augenbraue, und seine Knöchel waren aufgeschürft und mit breitem Schnitt versehen, weil sie ziemlich ungünstig an Tanners Zähnen entlanggeschrammt waren, als Nero sich irgendwann genug gefangen hatte, um den Jungen die Faust ins Gesicht zu rammen. Beides hatte er inzwischen soweit ausgewaschen, dass es nicht furchtbar auffällig wirkte.


Nach einem Abstecher in seine Wohnung saß er im Bus nach Great Falls, starrte seinen leeren Augen entgegen, die sich in der Fensterscheibe spiegelten, und versuchte das Mädchen zu ignorieren, dass ihm gegenüber Platz genommen hatte und ihre Freundin in der Lautstärke eines Industriestaubsaugers über die aktuellen Vorkommnisse in ihrem Leben informierte. „Jaaaa, und dann sagt der doch ernsthaft, nein, er kann nicht mitkommen, er will sich mit London treffen – ich mein, ich glaub ich spinne! Was will der denn mit London?! Als hätte ich ihn nicht vor der Bitch gewarnt!"

Er hatte die ersten zwei Stunden der Fahrt noch mit Mühe füllen können, indem er sich auf dem Handy mit Sudoku und Kartenspielen die Zeit vertrieb, sich den Physik-Aufsatz zuzog, den er bereits seit Tagen gespeichert hatte, und zuletzt nur durch Programming-Subreddits surfte, aber ewig konnte ihn das nicht wachhalten. Um halbwegs auf den Beinen zu bleiben, hatte er zu Energydrinks und Bahnhofskaffee gegriffen, und es hatte ein wenig gedauert, sich an den Filter zu gewöhnen, den die verborgene Müdigkeit über seine Umgebung legte. Jetzt schrie sein Gehirn nach irgendeiner Art von Input oder Stimulation, während es gleichzeitig bettelte, dass die Leute um ihn herum ihre Gespräche beendeten oder zumindest nicht über so unglaublich kotzlangweilig banale Dinge reden würden. Jede Sekunde, die ihn zwang, alles Geschehen um sich herum mitzuverfolgen, war ein weiterer Tropfen im See von Gereiztheit, der unter der Oberfläche seiner leeren Miene schwappte. Außerdem sorgte es dafür, dass seine Gedanken immer wieder zu Elijah zurückkehrten.

Nero wusste ziemlich genau, wo er hinwollte, und Nero hatte keine Ahnung, was er tun wollte. Er hatte eine sehr vage, undeutliche Vorstellung vor Augen, in die sich das Gespräch bewegen sollte, aber sie war von einigen Faktoren abhängig, und am Ende würde er vermutlich sowieso improvisieren. Der vernünftige Teil von ihm versuchte zu argumentieren, dass er keine Dummheiten begehen sollte. Das er nichts aufs Spiel setzen sollte für einen Jungen, der nicht mehr war als ein unbedeutender Randfleck in Neros eigener Existenz. Es stand noch nicht einmal fest, dass das Devon wirklich weiterhelfen würde. Nero schob diesen vernünftigen Teil in den müden Bereich seines Gehirns, wo alles hingehörte, was gerade verdrängt wurde, unter anderem ein ‚Wenn Icy wüsste, was du vorhast zu tun-'. Aber Icy wusste es nicht. Und er saß diese Busfahrt nicht durch, nur um dann mit leeren Händen abzuhauen.

Als er schon halb am Einnicken war, mit den verschwommenen Lichtern einer nächtlichen Stadt vor Augen, starb der Motor ab und sie hielten. Die Türen des Busses öffneten sich und entließen Spätpendler, Reisende und unglückliche Nachtschwärmer, die nicht auf ein Auto zurückgreifen konnten. Nero grub sich tiefer in den Kragen seiner Jacke, rückte den Rucksackriemen auf seiner Schulter zurecht und folgte ihnen.

The Games We Play (BoyxBoy)Όπου ζουν οι ιστορίες. Ανακάλυψε τώρα