Mein Leben ist ein Klischee-Film... hoffentlich kein Drama

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Das Mehrfamilienhaus schien seit neuestem kinderfreundlich zu sein.
In meiner Zeit hatte sich im Vorgarten nie eine Schaukel befunden, jetzt turnten zwei Jungen darauf herum.
Ich kannte die beiden nicht, aber das schien sie nicht zu stören: Der kleinere von beiden streckte mir die Zunge heraus, als ich sie eine Weile beobachtet hatte.
Ich verdrehte nur meine Augen und wandte mich ab.

Wenn man sich an dem Forsythien-Busch vorbeiquetschte, gelangte man in eine schmale Lücke, die das Gebäude vom Nachbarhaus trennte. Durch sie erreichte man die hintere Hauswand, die durch den winzigen Hinterhof mit den Mülltonnen gleich wieder ans nächste Haus angrenzte.

Mit kritischem Blick sah ich am bröckelnden Putz hoch zum rechten Fenster des zweiten Stocks, wo einmal mein Schlafzimmer gewesen war.
Es waren längst neue Menschen hier eingezogen, aber wenn Mom mir schon einen Schlüssel vermacht hatte, dann musste es dazu auch ein Schloss geben. Ich hatte beschlossen, zuerst in meinem ehemaligen Zuhause danach zu suchen, ehe ich bei Wong oder Stephen nachforschte... Denn traurig, aber wahr: Der Gedanke an diese beiden schmerzte mich mehr als der an meine eigene Mutter.

„Oscar, gib mir ein Wärmebild des Hauses."
Raschen Blickes überflog ich das Hologramm. Okay... In meiner alten Wohnung befand sich glücklicherweise nur ein Mensch, und zwar im Wohnzimmer.
Kurz entschlossen sprang ich an der zwei Meter-Mauer hoch und stemmte meine Handflächen gegen die Oberkante, um mich hinaufzudrücken.
Sie war relativ breit, ich hatte keine Probleme, hier zu stehen.
Die Regenrinne diente mir als Kletterstange bis zum gesuchten Fensterbrett, das zu meinem Glück gekippt war.

Vorsichtig zwängte ich meine Hand in die Lücke und verschaffte mir mithilfe einer schmalen Zange Zugang zum Zimmer.  Ich sprang vom Fensterbrett und federte mich mit den Knien ab, um meine Geräusche zu dämpfen, dann sah ich mich rasch um.
Es hatte sich komplett verändert, seit ich das letzte Mal hier gewesen war, auf der Bettdecke waren jetzt Autos abgebildet und an der Wand klebten Sterne.
Hübsch, eigentlich.

Aber ich hielt mich nicht länger hier auf, sondern schlich aus der Tür in Richtung Flur, die knarzenden Dielen wohlweißlich umgehend.
Mom hatte alle persönlichen Dinge immer in ihrem ‚Arbeitszimmer' aufbewahrt, dem einzigen Raum, den man abschließen konnte – und der eigentlich nichts weiter als eine Abstellkammer war.
In einer etwas riskanteren Aktion huschte ich am offenen Wohnzimmerbereich vorbei, aber ich blieb unbemerkt und trat rasch an die gesuchte Tür.
Moms heiliges Reich hatte ich nie betreten dürfen, aber das kam mir jetzt zugute: Ich wusste nur zu genau, wie man das Schloss knackte.
Haarnadeln trug ich nicht, aber auch mit einer großen Sicherheitsnadel konnte man den schmalen Riegel aushebeln und die Tür öffnen.

In der Kammer befanden sich mittlerweile nur noch Putzgeräte und ein paar Wandfarben, aber Oscars Scan hatte mir bereits bewiesen, dass ich Gesuchtes nicht hier finden würde.
Kurzerhand nahm ich einen Spachtel aus einem der Wandregale und hebelte damit die dritte Diele von links aus. Das war Moms Geheimversteck gewesen, und wenn ich Glück hatte, war es niemandem aufgefallen.

Tatsächlich war das Einzige, was sich darin befand, eine kleine Holztruhe – und ich konnte nicht verhindern, dass meine Augen sich wie von selbst verdrehten. Mehr Klischee ging ja wohl nicht.

Der Schlüssel passte selbstverständlich.
Der Inhalt der Truhe war allerdings eher semi-spektakulär, denn bis auf einen Brief fand ich nichts. Ich hielt das leise knisternde Papier in der Hand, das einzige, was mir von Mom übriggeblieben war... und konnte nur die Augen verdrehen. Sie hätte ja wenigstens etwas kreativ sein können.

Sicherheitshalber ließ ich Oscar sowohl Truhe als auch Versteck nochmal abscannen und alle DNA-Spuren aufnehmen, dann machte ich mich wieder los, den Brief in der Jackentasche.

Und ich hätte es auch beinahe geschafft.
Es war knapp, ich war schon an der Wohnungstür und hatte meine vom Hoodieärmel bedeckte Hand am Türknauf – da wurde er gedreht, und zwar von außen.
Der Junge von vorhin stand vor mir und riss die Augen auf.
Ganz toll.
Eilig bedeutete ich ihm, ruhig zu sein.

„Gib mir einen Grund, nicht zu schreien", zischte er glücklicherweise leise. Er konnte höchstens neun sein, aber er war klug – im Gegensatz zu seinem kleineren Freund, den er jetzt nicht mehr dabeihatte.
„Ich bin in geheimer Mission hier", versuchte ich es dennoch mit einer Abenteuergeschichte, aber wie befürchtet verschränkte der kleine Blonde nur die Arme. „Besteht diese Mission darin, meine Familie auszurauben?"

Er war viel zu scharfsinnig für einen Neunjährigen. Ich tippte rasch meinen Brillenbügel an, worauf Oscar mir sofort alle Informationen zu ihm raussuchte... Und ich schmunzelte, als ich den Namen des Jungen herausfand.
„Oskar", sprach ich ihn an, „Du bist schon auf dem Gymnasium, richtig? Und du bist in Mathe außerordentlich gut."
Jetzt vollends misstrauisch wich der Junge ein Stück zurück. „Woher weißt du das?"

Mein Blick wurde ernst. „Du darfst es niemandem verraten, okay? Ich bin Gracie Stark, Iron Mans Tochter. Ich muss meinem Dad bei etwas helfen, deshalb bin ich hier."
Seine Augen weiteten sich wieder, aber diesmal war sein Blick voller Bewunderung. Eilig machte ich weiter: „Wenn du niemandem etwas davon sagst, werde ich dir natürlich einen Gegengefallen tun. Was hältst du von der Mathespezialschule?"
Oskar schützte die Lippen. „Die haben keinen Platz für mich frei."
„Wenn ich da anrufe, schon." Ich trat vorsichtig aus dem Türrahmen heraus. „Lässt du mich gehen?"
Noch immer zögernd nickte Oskar und wartete, bis ich tatsächlich verschwunden war.
Als ich schon am Treppenhaus angelangt war, rief er mir noch hinterher: „Tut mir leid, dass Justin dir vorhin die Zunge rausgestreckt hat!"
Ich musste lächeln.

***

Hat jemand Ideen, was in diesem ominösen und gar nicht klischeehaften Brief stehen könnte? Oder generelle Anmerkungen zum Kapitel?🙃

Iron Kid ~ Plan BWhere stories live. Discover now