Wenn ein Superspion sich meine Nummer klärt...

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Ich konnte ganz sicher sagen, dass ich zum Abendessen nicht wieder im Hauptquartier sein würde.
Ich meine, Japan. Musste das sein?
Da war ja Sibirien günstiger gewesen.

Ich trug wieder einen weißen Hoodie, um Clint auch keinen Anstoß zum Angriff zu geben – denn dann wäre ich binnen Sekunden tot. Klar, ich hatte schon mit einem Schwert trainiert und auch überlegt, eines mitzunehmen, aber gegen Hawkeye hatte ich nicht den Hauch einer Chance.
Ich hoffte einfach, dass er seine Nummer, die Unschuldigen zu verschonen, durchzog. Auch wenn er einer von uns war – er konnte nicht wissen, dass ich Teil der Avengers war, ich hatte ihn nie zuvor getroffen.
Vielleicht wäre es einfacher gewesen, Steve zu schicken, aber der hatte gerade andere Probleme.

Im Endeffekt war es sowieso ich, die durch die leeren Gassen Tokyos schlich, immer in Richtung der Leichen, die Oscar mir anzeigte.
Ihre Körper waren auf dem holographischen Wärmebild noch heller als ihre Umgebung, Clint musste also noch vor Ort sein... Tatsächlich, ein definitiv lebendiger Mensch bewegte sich einige Stockwerke über mir im nächsten Block.
Er hatte mich augenscheinlich bereits bemerkt, denn der rötliche Punkt näherte sich mir in einer beunruhigenden Geschwindigkeit.
Auch, als er hinter mir in der Gasse landete, hätte ich ihn ohne Oscar niemals bemerken können.

„Willst du mich jetzt auch töten?", fragte ich ruhig und drehte mich zu ihm um.
Jetzt konnte ich sehen, wie Clint sich kurz versteifte, aber er hatte sich erstaunlich schnell wieder im Griff. „Sie haben es verdient zu sterben, ich töte nur die Schuldigen. Die Frage ist also nur... Inwieweit bist du unschuldig?"
Ich zuckte meine Schultern. „Ich habe nie einem Menschen Schmerzen zugefügt, der das nicht auch verdient hatte. Mein Name ist Gracie Stark." Ich hatte den weißen Hoodie meinem Stark-Shirt vorgezogen. Aber ich musste Oscar wirklich mal zählen lassen, wie oft ich diesen Satz jetzt schon von mir gegeben hatte...

Hawkeye kam langsam näher. „Entscheide dich – entweder bist du unschuldig oder eine Stark. Aber entscheide dich schnell, meine Geduld ist am Ende."
Ich ließ mich von ihm nur wenig beeindrucken: „Prinzipiell hast du tatsächlich gute Gründe, mich zu töten. Du weißt sie nur noch nicht."
„Du wirst mir sie sicher gleich erklären", schnaubte Barton, mich wie eine Raubkatze langsam umkreisend.

„Der Punkt geht an dich, Hawkeye", ich beobachtete genau, wie er sich wieder leicht anspannte, „Natasha sollte eigentlich den Snap überleben. Meine Existenz war... nicht vorhergesehen, und sie sollte an meiner Stelle sein."
Clints Finger wanderten langsam zu seinem Schwertgriff, aber ich rührte mich noch immer nicht. Ich hatte erfolgreich gelernt, dass blindes Vertrauen meist gern erwidert wurde.
„Aber Natasha sollte auch unseren geplanten Trip nicht überleben", machte ich weiter, „Wir werden in die Vergangenheit zurückreisen und die Steine zu uns holen, um den Snap rückgängig zu machen."
Clint zuckte plötzlich zurück und stand da wie erstarrt. „Gib mir keine Hoffnung."

Ich zog eine Augenbraue hoch. „Hawkeye..."
„Keine Hoffnung mehr", verdeutlichte er, jedes Wort hart betonend. Jetzt war ich es, die sich ihm näherte, erbarmungslos die nächsten Worte formend: „Das ist keine Hoffnung, das ist ein Versprechen. Wir versammeln die Avengers, und gemeinsam, Clint – gemeinsam schaffen wir alles."

Hawkeye sah mir noch kurz in die Augen, dann wandte er sich ab.
„Ich bin kein Avenger mehr."

Ich behielt mein Lächeln auf dem Gesicht, äußerlich ruhig bleibend – obwohl dieser Satz mich tiefer traf, als er eigentlich sollte. „Du wirst immer zu uns gehören", beharrte ich, „Ich habe euch im Civil War kämpfen sehen. Obwohl ihr euch gegeneinander gewendet habt, wart ihr eine Einheit."
„So?" Er zog nur die Augenbrauen hoch.
„Mein Dad hatte mich beordert... Ich habe auf sein Team aufgepasst", offenbarte ich zögerlich.
„Dann standen wir damals genauso auf unterschiedlichen Seiten wie heute auch", war seine Feststellung.

„Wir haben dieselben Ziele, Clint. Du willst deine Familie wiederbekommen... genau wie wir alle anderen auch zurückholen wollen", widersprach ich ihm, „Denn wir haben die Möglichkeit dazu. Du wirst dich an jeden Strohhalm klammern, um sie zurückzubekommen... Und ich werde alles tun, um dir dabei zu helfen." Ich hatte schon so viele Versprechen gemacht... An Vision und Wanda, an Loki und Thor. Und ich hatte vor, sie alle zu halten.

„Deine Familie, Hawkeye", intensivierte ich meinen Blick, „besteht nicht nur aus Laura und deinen Kindern. Wir alle, die Avengers, sind deine Familie. Und sie sind auch Natashas Familie – im Gegensatz zu dir aber ihre einzige."
Meine Stimme war kühl, selbstbewusst und hundertprozentig ehrlich, als ich sagte: „Ich werde Natasha zurückholen. Natasha und den Rest der Avengers. Und wenn wir wieder vereint sind, dann können wir auch alle anderen Menschen erfolgreich schützen vor jedweden Gefahren, die noch kommen mögen."

Clint sah mich regungslos an, aber seine Haltung war nicht mehr abwehrend.
„Große Worte für ein kleines Mädchen wie dich."
Ich lächelte ironisch. „Nur gut, dass wahre Größe von innen kommt, sonst wäre auf der Erde viel zu wenig Platz für Menschen wie mich."

Und als Hawkeye entnervt aufstöhnte, wusste ich, dass er nachgegeben hatte. „Ich komme ganz bestimmt nicht zurück, wenn sich zwei Starks in meinem Umkreis befinden."
Ich grinste nun ehrlich und drückte ihm eine Visitenkarte mit allen wichtigen Avengers-Daten in die Hand.
„Was soll ich damit? Ich habe schon im Hauptquartier gewohnt."
„Wir haben die Telefonnummer geändert", zuckte ich meine Schultern.
„Ich bin ein Superspion", schnaubte Clint, „Die hätte ich auch so herausgefunden."

Lachend winkte ich ihm zu, und nun war ich es, die sich abwandte.
Als hätten wir Rollen getauscht, hielt Hawkeye mich noch zurück: „He, Stark!"
Ich blieb stehen und wartete ab, was er zu sagen hatte.
„Warum Natasha? Warum bist du so verbissen darauf, sie zurückzuholen?"

„Weißt du", lächelte ich ihm über meine Schulter zu, „Sie hat grüne Augen. Da kann ich nicht widerstehen."
Jetzt wurde Clints Blick ernst: „Dann nimm dich in Acht. Ich sah schon grüne Augen, denen nicht zu trauen ist. Die gefährlich sind."
Oha. Die Feindschaft zwischen Loki und Clint ging wohl tiefer, als ich erhofft hatte. „Du sprichst von Loki, als wäre er dein Feind", protestierte ich dennoch, „Aber auch er gehört zu uns, zu den Avengers – zu deiner Familie."

Ich wusste ganz genau um den gewaltigen Rückschritt, als Clint sofort seine Arme verschränkte. Aber Loki war kein Feind, und auch wenn ich das wieder und wieder beweisen musste, würde ich derartige Sätze niemals im Raum stehen lassen.
„Der Gott des Unheils wird niemals zu meiner Familie gehören. Ich komme nicht ins Hauptquartier, solange er dort ist."
Er hatte also schon geahnt, dass wir Loki beherbergten. Es wunderte mich nicht, Clint war unheimlich klug und schnell im Kopf.

„Und wenn wir Erfolg haben?", fragte ich ruhig, „Wenn wir Natasha und die anderen Avengers wieder zurückgeholt haben und du beruhigt wieder in grüne Augen blicken kannst? Wirst du dann zurückkommen?"
Nur kurz hielt Clint Blickkontakt mit mir, dann wandte er sich mit angespanntem Kiefer ab.

„Wenn es so weit ist, weiß ich, wo ich euch finde." Hawkeye ließ kurz die Visitenkarte aufblitzen, dann verschwand sie wieder in seiner Manteltasche. Und das war alles, was ich erwarten konnte nach meinem Fauxpas mit Loki. Ob ich einen Fehler gemacht hatte?
Also bitte. Es war niemals ein Fehler, Loki zu verteidigen.

„Danke, Clint", lächelte ich zum Abschied, „Wir sehen uns in Bälde."
Er nickte knapp. „Wir werden sehen."
„Sag' ich ja."

***

Das langersehnte Clint-Kapitel... es ist etwas länger geworden, dafür wird das morgige voraussichtlich etwas kürzer. Es hält sich alles in der Waage.😉

Iron Kid ~ Plan BWo Geschichten leben. Entdecke jetzt