Chapter 1

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Genervt und entsetzt sehe ich meine Eltern an, während meine Zwillingsschwester vor Freude beinahe an die Decke geht. Wir sitzen grade am Esstisch beim Abendessen und alles war schön und entspannt. Bis meine Eltern uns die 'große Neuigkeit' erzählt haben.

"Das kann nicht euer ernst sein!", zicke ich die beiden Erwachsenen vor mir an. "Alec, bitte. Eure Mutter und ich, wir müssen leider für ein wichtiges Geschäft ein paar Wochen ins Ausland. Dass sich das mit euren Sommerferien überschneidet tut uns leid. Aber wir können euch nicht so lange hier alleine lassen.", versucht mein Vater seine Entscheidung zu rechtfertigen.

"Aber ein Reiterhof? Ernsthaft?! Was soll ich denn da?", meckere ich weiter. Nun meldet sich meine Mutter zu Wort: "Dieser Reiterhof gehört einer alten Freundin von mir, sie heißt Jocelyn. Ihr kennt ihre Tochter, Clary." Nickend sehe ich sie an. "Ja die kleine Rothaarige, die nach der vierten Klasse umgezogen ist.", antworte ich. "Genau die!", erwidert meine Mutter.

"Sie ist damals umgezogen, weil Jocelyn mit ihrem damals Verlobten Luke einen Rieterhof aufmachen konnte. Wir haben nie den Kontakt verloren. Sie hat angeboten, dass ihr beide zu ihr kommen könnt. Komplett kostenlos und sie bringen euch sogar reiten bei, wenn ihr wollt.", versucht meine Mutter es mir weiter schön zu reden. Doch erfolglos. "Mom, ich kann schon reiten. Falls du dich erinnerst, wolltest du bis zwei Jahren noch, dass ich Unterricht bekomme.", murre ich und sehe sie immernoch mit unglücklicher Miene an.

"Ich kann aber nicht reiten!", mischt sich meine Schwester ein und genervt verdrehe ich die Augen. "Der Hof steht in einer wunderschönen Landschaft. Überall Felder, es ist total ruhig. Und in einem nahegelegenen Wald gibt es einen schönen See. Du könntest dort wundervolle Fotos machen und hättest deine Ruhe.", versucht es jetzt mein Vater.

Seufzend nicke ich. "Darf ich Jace mitnehmen?", frage ich hoffnungsvoll. Ohne meinen besten Freund überlebe ich die sechs Wochen nicht. Nachdenklich sehen meine Eltern sich an, dann nicken sie mir zu. Sofort fällt Izzy mir um den Hals. Sie freut sich total, ihre Kindheitsfreundin wieder zu sehen, aber ich würde dann doch lieber hierbleiben.

Doch ich kann machen was ich will, meine Eltern schicken mich in diese Pampa, ob ich nun will oder nicht. Also gehe ich in mein Zimmer und fange an meine Koffer zu packen. Der Appetit ist mir sowieso vergangen. Die Ferien beginnen in zwei Tagen, morgen bekommen wir unsere Zeugnisse und übermorgen werde ich wahrscheinlich in einem Stall schlafen.

Irgendwie amüsiert mich der Gedanke daran. Meine Schwester Isabelle, die topgestylte immer modische und sehr auf ihr Aussehen achtende Schulprinzessin will auf einen Reiterhof. Reiten, Ställe ausmisten und verschwitzte, dreckige Klamotten tragen.

Grade will ich meinen Koffer aus dem Schrank holen, als mir Jace einfällt. Er ist seit dem Kindergarten mein bester Freund und, egal ob gut oder schlecht, wir machen alles zusammen durch ohne Fragen zu stellen.

Also schreibe ich ihm schnell eine Nachricht, dass wir übermorgen zusammen den ganzen Sommer über auf einen Reiterhof fahren. Nachdem er es gelesen hat, kommt fünf Minuten später eine Antwort. "Meine Mom ist einverstanden. Ich penne morgen bei dir, dann wird es mit dem Fahren einfacher.", steht in unserem Chat.

Und genau dafür liebe ich Jace. Er stellt keine Fragen, er macht einfach nur mit. Und egal, wie langweilig diese Ferien werden, mit Jace wird alles viel lustiger. Schnell schreibe ich ihm noch, was er ungefähr alles brauchen könnte.

Dann fange ich selber an zu packen. Klamotten, meine Kamera, mein Zeichenbuch und meine Stifte. Ich zeichne nicht gut, aber es hilft ungemein gegen Langeweile und beruhigt mich. Seufzend lasse ich mich auf mein Bett fallen.

Dieser Sommer ist der letzte. Danach komme ich ins Abschlussjahr und dann ist die Zeit der Highschool vorbei! Und was habe ich erlebt? Nichts! Ich bin ungeküsst und Jungfrau. Und doch muss ich mir ein Lachen verkneifen. Ich finde es nicht schlimm, dass ich noch keine Erfahrungen habe.

Aber alle anderen finden es wohl schlimm. Ein 17 Jähriger sollte keine Jungfrau mehr sein! Bla bla bla! Wieso ist das in der Gesellschaft so wichtig? Ich selber finde das total nebensächlich. Genauso wie Jace. Er ist auch noch Jungfrau. Wir warten wohl beide auf den richtigen Menschen. Wobei ich bei ihm weiß, dass es ein Mädchen sein wird.

Aber bei mir? Tja, ich weiß, dass es bei mir ein Junge sein wird. Das ich schwul bin habe ich relativ früh erkannt. In der siebten Klasse. Damals wussten es nur Izzy und Jace. Gemeinsam haben wir es meinen Eltern gesagt und später ging es in der Schule rum. Keinen hat es gestört. Aber bis jetzt gab es auch niemanden bei dem ich dachte: 'Wow! Dieser Junge oder keiner!'

Ein Klopfen an der Tür lässt mich aufschrecken. "Herein?", rufe ich. Sofort steckt meine Schwester ihren Kopf durch die geöffnete Tür. "Was gibt's?", frage ich sie und setze mich in meinem Bett auf. Sie setzt sich zu mir. "Ich habe grade mit Clary telefoniert.",  fängt sie an. "Und wie geht's der kleinen?", frage ich neugierig.

"Sie freut sich total uns zu sehen und hat für uns die besten Zimmer fertig gemacht. Ich schlafe mit bei ihr und Jace und du schlaft nebenan in dem Gästezimmer. Die Zimmer für die Feriengäste sind auf der anderen Seite des Hauses, also haben wir unsere Ruhe.", erklärt sie. Eine weitere Erleichterung.

Solange ich nicht mit lauten, quietschenden kleinen Mädchen Frühstücken muss, ist mir der Rest egal. Und wer weiß? Vielleicht lerne ich ja dort IHN kennen und verliebe mich. Ziemlich unwahrscheinlich, aber die schnulzigsten Liebesfilme fangen so an.

Aber egal, wie viele Gedanken ich mir mache, ich werde sowieso nichts beeinflussen können. Jedoch eine Sache weiß ich. Das wird entweder der beste oder der schlimmste Sommer meines Lebens. Und ich weiß jetzt schon, beides wird schmerzhafte Folgen haben.

Das Glück der Erde...Where stories live. Discover now