Kapitel 54

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Schlagartig war es still geworden im Haus. Jake kam dichter und warf ebenfalls einen prüfenden Blick auf den Bildschirm. Miles wirkte verwirrt und auch ich fühlte mich überrumpelt von dieser neuen Information.

»Edwin Hernandez erobert Illinois«, las Jake den Untertitel des Fotos vor und schob die Hände in die Hosentaschen.

Ich las weiter: »Der Investor von ›Danny's Grocery‹ steht nun erstmalig mit CEO vor der Kamera.«

»Dieser Mann, der Investor, ist Bruce Edwards.«, beteuerte Noah.

»Noah, ... Ich will nicht in Frage stellen, was du sagst, aber ...« Miles rieb sich das Kinn. »Es ist unmöglich.«

»Wieso sollte es unmöglich sein? Vielleicht hat er zwei Identitäten.«, warf ich in den Raum.

»Gut, das mag sein.«, räumte Miles ein. »Trotzdem ist es merkwürdig. Wie kann denn niemand bemerken, dass dieser Mensch - und ich sage absichtlich Mensch, weil es Superkräfte nur in Filmen gibt - zwei verschiedene Rollen spielt?«

Jake blickte verständnislos zwischen uns hin und her.

»Ich frage mich eher, wie, zum Teufel, es sein kann, dass nicht einmal das FBI dies herausgefunden hat.«, sagte ich und kurz darauf kam mir ein noch beunruhigender Gedanke. »Oder Bruce Edwards ... beziehungsweise Edwin Hernandez ... zeigt niemals sein Gesicht.«

Miles Augen weiteten sich.

»Gruselig.«, kommentierte er meinen Verdacht.

»Ziemlich.«, stimmte ich ihm zu. »Aber ist es nicht genial? Niemand kennt das Gesicht zu dem Namen Bruce Edwards. Und Bruce Edwards existiert eigentlich nicht mal. Er ist wie ein Geist. Man kann suchen und suchen und suchen, doch alle Wege führen ins Nichts.«

»Exakt!« Noah legte die Akte auf den Tisch und stand auf. »Agent Roberts erzählte uns, dass sich Bruce Edwards sehr bedeckt hält, erinnerst du dich, Julie?«

»Klar.«

»Super. Ich denke nämlich, ich habe die Antwort darauf, weshalb sich der gute Edwin Hernandez eine neue Identität namens Bruce Edwards zugelegt hat, gefunden.« Noah machte eine Pause. »Es liegt auf der Hand, dass als allererstes der Name irgendwo auftaucht. Konten, Überweisungen, Ausweise, Spuren, die man im Internet hinterlässt. Ich würde mir für meine illegalen Geschäfte auch sowas überlegen. Wir wissen ja nicht, ob Edwin Hernandez vielleicht sogar eine Familie hat, die er dadurch zu schützen versucht.«

»Und jede Firma braucht irgendwo einen Sitz, also benötigte Bruce Edwards einen Bauplatz und einen Ingenieur, der sehr intelligent war, sich mit den neusten Sicherheitssystemen auskannte, und den er mit viel Geld für sein Schweigen bezahlen konnte.«, fügte Jake hinzu.

Miles blickte zu Noah, aber der hatte von Jakes unsensiblen Mutmaßungen gar nichts mitbekommen.

Wie versteinert stand Noah da. »Und als er ihn nicht mehr brauchte, hat Bruce Edwards meinen Dad und meine Mum umbringen lassen.«

»Weil ihn niemand kennen durfte.«, schob Jake hinterher.

Noah zuckte fast unmerklich zusammen.

»Warum hat er mich am Leben gelassen?«, fragte er.

Miles senkte den Blick.

»Du warst ein Kind.«, antwortete ich einfühlsam. »So grausam manche Menschen auch sind, bei Kindern haben sie Hemmungen.«

Noah winkte ab. »Das glaube ich nicht. Bruce Edwards hat vor nichts Hemmungen. Er nimmt sich, was er will, ohne Rücksicht auf Verluste. Ich war ihm nicht von Bedeutung, nur weshalb ließ er mich gehen?«

»Er konnte vielleicht nicht ahnen, dass du überhaupt von dem Auftrag deines Onkels wusstest.«, sagte Miles und seine Gutgläubigkeit schien Jake gewaltig zu ärgern. Er verzog den Mund, doch erstaunte mich, indem er sich ehrlich bemühte, die Fassung zu bewahren und nicht sofort mit seinen Gedanken herauszuplatzen.

»Denkt mal nach.« Noah räusperte sich, als könnte er damit die Spannung, die in der Luft lag, lösen und lenkte unsere Konzentration auf etwas anderes. »In diesen Akten hat Agent Roberts jeden seiner Schritte sorgfältig notiert und alle Unterlagen abgeheftet. Laut diesen Beweisen hat das FBI offensichtlich in eine völlig andere, ganz falsche Richtung ermittelt. Jede Behörde hätte das getan, weil es nun mal einfach keine Anhaltspunkte und kein bis dato bekanntes Gesicht zu Bruce Edwards gab!«

»Worauf willst du hinaus?«, wollte ich wissen und hatte bereits eine Vorahnung dessen, was Noah gleich offenlegen würde.

»Es war ein Glücksfall, dass ich nicht erst bei irgendwelchen Behörden angerufen habe, Julie. Wir wissen nicht, ob Bruce Edwards dort auch Leute hat, die für ihn arbeiten. Ich wäre aufgeflogen. Selbst unser kleiner Besuch, den wir ihm im Lager abgestattet haben, war schon zu viel. Wenn er auch nur ein kleines bisschen Intelligenz besitzt, weiß Bruce Edwards nun von mir und meinem Wissen, und dass ich wiederkommen werde.« Noahs Stimme bebte. »Denn ich bin der Einzige, der Zugriff auf die Baupläne meines Vaters und meines Onkels hatte. Ich bin der Einzige, der diesen Weg bei einem Einbruch gewählt hätte, und jetzt, wo ich da war, kann ich die Symbole in der Zeichnung entziffern und bin ihm ein gefährlicher Gegner.«

Plötzlich war es totenstill im Wohnzimmer geworden. Miles atmete tief durch. Jake betrachtete die Akten auf dem Tisch, aus denen einige Zettel scheinbar wirr heraushingen.

»Noah«, begann Miles und legte den Kopf schief. »Bist du dir sicher, dass du das tun willst?«

»Natürlich.«, antwortete Noah und ignorierte die Besorgnis in Miles Worten.

Mein Magen verkrampfte sich, während ich Noah beobachtete. Ich wünschte, ich könnte einen Fehler in alledem finden. Irgendetwas, was uns Sicherheit schenkte, weil wir Bruce Edwards niemals leibhaftig gegenüber stehen würden. Vielleicht hatte ich die Entscheidung, mit dem FBI zusammen zu arbeiten, vorschnell getroffen. Verunsichert musterte ich Noah. Es machte mir Angst, wie entschlossen er sich gab, uns alle zu retten. Dabei hatten wir es mit Profis zutun. Menschen, die einen Draht zu Auftragskillern und allerlei Behörden hatten. Wir spielten mit dem Feuer, und wir würden uns verbrennen.

Miles, der inzwischen über einem der Kartons hing, warf mir einen eindringlichen Blick zu. Ich linste zu Noah und Jake, die sich bereits auf dem Fußboden um die Baupläne versammelt hatten. Dann guckte ich wieder zu Miles, der in Richtung Küche deutete. In meinem Hals bildete sich ein Kloß und ich nickte stumm.

Nicht ohne dichWhere stories live. Discover now