Kapitel 29

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Der Donner grollte und der Regen lief in Bahnen die Fensterscheiben hinab, als hätte man mindestens vier Badewannen über unserem Autodach ausgeleert. Miles klappte den Laptop wieder auf und begann, sich irgendetwas zu notieren. Unterdessen rollte Noah den einen Bauplan wieder ein und zeigte mir auf dem anderen wieder die unterschiedlichen Zeichen, mit denen ich schon vor einer Viertelstunde überhaupt nichts hatte anfangen können. Achselzuckend sah ich Noah an.

»Solche Symbole werden eigentlich verwendet, um im Grundriss darzustellen, wo sich später Steckdosen oder Brandmelder befinden.«, erklärte er.

Miles nickte. »Oder eine Einbruchmeldeanlage.«

»Oder Infrarot-Bewegungsmelder.«, meldete sich Jake zum ersten Mal zu Wort.

Überrascht drehte Noah den Kopf. Jake hob herausfordernd die Brauen, was Noah irgendwie wütend zu machen schien. Die beiden starrten sich für einige Sekunden an, bis Miles wieder auf den Bauplan deutete. »Was ist jetzt mit den Symbolen?«

Noah schien den Faden verloren zu haben.

»Also ich verstehe rein gar nichts davon.«, murmelte ich.

»Geht mir genau so.« Miles atmete tief durch, »Noah, Jake, erklärt uns das mal.«

Erstaunlicherweise erbarmte sich Jake dazu, Miles und mir ein Symbol nach dem anderen zu zeigen. »Noah hat ja schon gesagt, dass solche Zeichen eigentlich für zum Beispiel Steckdosen verwendet werden. Das ist auch richtig ...« Jake machte eine kurze Pause, »Auf diesem Plan jedoch ist nichts stimmig.«

»Warum nicht?«, wollte ich wissen.

Schweigen.

»Ich habe alle Möglichkeiten in Betracht gezogen ... Der Grund kann nur sein, dass sich anstelle einer gewöhnlichen Haustechnik ein Sicherheitssystem in diesem Gebäude befindet.«, sagte Noah ernst. »Und dieses System müsste ich wochenlang studieren oder denjenigen Treffen, der es konzipiert hat, ehe ich irgendetwas ausrichten könnte.«

»Können wir den Strom abschalten?«, fragte ich.

Nachdenklich guckte Noah mich an. »Es wurde bestimmt ein Notstromaggregat verbaut.«

»Außerdem wird sicherlich ein Alarm aktiviert.«, fügte Miles hinzu.

»Aber« Jake nickte in Noahs Richtung, »Es gibt noch eine andere Möglichkeit.«

Abrupt guckte ich hoch. Auch Miles war gespannt.

»Spontan würde ich sagen, wir fahren zu dem Gebäude und sehen uns vor Ort um.«, sagte Noah schulterzuckend.

Zögernd blickte ich zu Jake.

»Wir haben keine andere Wahl. Ich habe nicht den blassesten Schimmer, wie ich die Symbole interpretieren sollte, und das war ja längst nicht alles. Auf den anderen Seiten stehen griechische Buchstaben.« Er rieb sich den Nacken.

Mit gerunzelter Stirn fixierte ich die Zeichnung erneut. Nichts von alledem, was ich in der Schulzeit gelernt hatte, half mir hierbei weiter, und ich war mir sicher, dass ich kaum etwas aus dem Unterricht der letzten Jahre vergessen hatte.

»Okay«, seufzte Miles ergeben.

»Ich fürchte, du musst dich doch mit einer Waffe vertraut machen.«, murmelte Jake.

Miles erwiderte den undurchdringlichen Blick seines besten Freundes. »Dass ich kein Problem damit habe, eine Pistole in der Hand zu halten, solltest du wissen.«

»Du schießt nur nicht.« Jake verdrehte die Augen. Sein herablassender Gesichtsausdruck ließ Wut in mir hochkochen. Miles schwieg. Wahrscheinlich war das das einzig Sinnvolle in unserer Situation, denn sich gegenseitig an die Gurgel zu gehen, brachte uns keinesfalls weiter. Trotzdem konnte ich kaum an mich halten. Ich dachte daran, wie Miles mich befreit hatte. Sofort kam mir der erste Morgen mit Jake, Miles und Noah in den Sinn, als ich aus dem Auto ausgestiegen war und noch einen Teil des Gesprächs zwischen Jake und Miles mitbekommen hatte. Da war es um genau das gleiche Thema gegangen. Zuerst war ich automatisch davon ausgegangen, dass sie mich erschießen wollten, aber jetzt ahnte ich, dass Jake seinen Freund dazu hatte drängen wollen, auf die Gegner zu schießen. Plötzlich verdrehte sich mir der Magen.

»Du Dreckskerl.«, zischte ich.

Schlagartig lag alle Aufmerksamkeit bei mir.

Jake setzte sich kerzengerade auf. »Was hast du gesagt, Julie?«

Ich schluckte den Kloß in meinem Hals herunter. »Dass du ein Dreckskerl bist. Wie kannst du nur einem Freund sagen, er soll jemanden erschießen?«

»Ernsthaft?«, entgegnete Jake und drehte sich zu mir nach hinten um.

Eisern hielt ich seinem Blick stand.

»Wir kämpfen darum, zu überleben. Das ist kein Spiel, also reiß dich zusammen.« Jake beugte sich vor, »Falls du das nicht kannst, weil du hier selbst Verantwortung übernehmen musst und Daddy nicht alles für dich erledigt, kannst du gerne gehen. Da ist die Tür.«

Schmerz flammte in meinem Körper auf. Bilder von meinem Dad und meiner Mum spielten sich vor meinem inneren Auge ab. Mit einem Mal durchfuhr mich solch eine heftige Welle an Zorn, dass ich die Hand ballte, mich ein wenig vorbeugte und Jake die Faust ins Gesicht schnellen ließ. Hellrotes Blut tropfte in den Innenraum des Autos. Noah griff nach meiner geballten Faust und drückte diese herunter auf den Sitz, während sich Miles aufrichtete, um Jake davon abzuhalten, mir richtig eine zu verpassen.

Noah drängte mich zur Tür. Meine Knöchel taten höllisch weh, und ich konnte kaum mehr die Finger bewegen.

Zu zweit verließen wir den Wagen. Ich stapfte davon, ohne mich noch einmal umzusehen. Noah stieß die Autotür zu und folgte mir mit schnellen Schritten. Es dauerte nicht lange, da packte er mich am Arm und hielt mich zurück. Ich rechnete fest damit, nun richtig Ärger zu kriegen, aber Noah lächelte mich nur müde an und zog mich in eine feste Umarmung.

Erschöpft legte ich die Hände auf seinen Rücken und vergrub das Gesicht in dem weichen Stoff seines Kapuzenpullovers. Der Regen war schwächer geworden, doch vereinzelte Tropfen benetzten noch immer unsere umschlungenen Körper.

»Willst du mich gar nicht ausschimpfen?«, flüsterte ich mit bebendem Herzen gegen Noahs Brust.

Als er lachte, vibrierte sein ganzer Oberkörper an meiner Wange.

Ich hob meinen Kopf, um ihn ansehen zu können. »Warum lachst du?«

»Weil du so unglaublich bist.«, erwiderte Noah leise.

Meine Gefühle spielten völlig verrückt. Die Wut war wie weggeblasen. Stattdessen durchströmte mich ein Kribbeln, dass ich zwar eigentlich für total bescheuert hielt, aber ich hatte keine Ahnung, wie ich mich dagegen wehren sollte. Es war so stark, so wunderschön, und gleichzeitig zerriss es mir das Herz, weil ich nicht so für Noah empfinden durfte.

Anstelle mich aus der Umarmung zu befreien, schob ich die beängstigenden Gedanken weg, und lehnte meinen Kopf wieder gegen Noahs Brust. Ich schloss die Lider, in der Hoffnung, die Zeit könnte vielleicht stehen bleiben, damit ich Noah nie wieder loslassen musste.

Nicht ohne dichWhere stories live. Discover now