Kapitel 65

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Ich blinzelte verschlafen. Noah kniete direkt vor meiner Betthälfte, die Hand sanft rüttelnd an meiner Schulter, um mich aufzuwecken. Sofort drehte ich den Kopf und blickte auf den Wecker. Fünf Uhr dreißig. Schlagartig war ich wach und er zog seine Hand so schnell weg, als hätte er sich an mir verbrannt.

»Beeil dich, Julie.«, sagte er noch, bevor er sich aufrichtete und im Flur verschwand.

Eine Minute saß ich mit zurückgeschlagener Decke da und blickte ihm nach. Mit einem Mal kam mir die gestrige Nacht wieder in den Sinn. Unser Gespräch war beinahe freundschaftlich verlaufen. Er hatte gelacht. Wenn auch nur kurz, es hatte mir eine kleine Last von den Schultern genommen. Dennoch sorgte ich mich. Ich fürchtete mich davor, dass sich Noah übernehmen würde. Vielleicht wäre es sinnvoller, noch ein wenig abzuwarten. Darauf würden sich die Jungs allerdings niemals einlassen. Und auch ich wäre froh, die kommenden Stunden schon jetzt hinter mir zu haben. Mit Noah reden zu können, ohne dass mich die Angst in die Knie zwang. Ich durfte nicht zulassen, dass er von unseren bisherigen Plänen abweichte, sich gar selbst in Gefahr brachte. Immerhin kannte ich seine Einstellung. Er hatte schon einmal mit seinem Leben abgeschlossen. Könnte er auch nur einen Menschen retten, würde er dies jederzeit wieder tun. Das musste ich verhindern. So egoistisch es auch klingen mochte, ich brauchte ihn. Ich würde es nicht ertragen, ihn für immer zu verlieren. Und ich wusste, dass er seine empfindsame Seele hinter hohen Mauern versteckte, sodass ich nicht länger die Chance hatte, ernsthaft mit ihm zu reden.

Instinktiv schweifte mein Blick zu Noahs Nachttisch. Das Handy lag nicht mehr dort. Wahrscheinlich war es bereits unten. Plötzlich knurrte mein Magen und ich stellte fest, dass ich vor Hunger hätte sterben können. Ich guckte ein letztes Mal zum Wecker, dann ging ich ins Badezimmer und machte mich fertig.

Schließlich kam ich unten in der Küche an. Miles tischte die restlichen Pancakes für mich auf, die er extra in der Pfanne warmgehalten hatte. Jake und Noah hatten schon aufgegessen. Miles und ich jedoch aßen gemeinsam zu Ende, ehe wir uns ins Wohnzimmer begaben, wo wir die Baupläne großflächig auf dem Fußboden ausbreiteten. Noah nahm sich einen Kugelschreiber und zeigte uns auf dem Plan den Weg, den wir zuletzt in das Gebäude von Edwin Hernandez genommen hatten. Diesmal würden wir über einen Notausgang hineingelangen, denn wir mussten davon ausgehen, dass man den Code für die Sicherheitstür im Innenraum geändert hatte. Außerdem konnten wir schlecht durch einen belebten Supermarkt laufen und zu viert durch eine Tür in den Lagerraum gehen, ohne gesehen zu werden. Wir brauchten jede Minute, die wir kriegen konnten.

Also gingen wir den Plan in jeder Einzelheit durch. Zwischendurch klärten wir die allerletzten Fragen. Dann kamen wir langsam zum Ende, und die Spannung im Raum wurde beinahe unerträglich, als uns die Ernsthaftigkeit unserer Lage so richtig bewusst wurde. Die Aufregung brachte meinen Magen durcheinander und meine Hände zitterten wie damals vor Präsentationen in der Schule.

»Wie wir es besprochen haben«, sagte Noah und die Miene des Kugelschreibers schwebte über dem Papier. »In Ordnung?«

Miles nickte zustimmend. Jake und ich taten es ihm gleich.

Noah erhob sich vom Fußboden. Er stützte sich am Kamin ab, vor dem wir gesessen hatten, und atmete tief durch. Ich suchte seinen Blick, aber er wich mir aus.

»Legen wir los.« Noah nahm seine Sweatjacke vom Garderobenhaken.

Jake sah von Miles zu Noah. Er seufzte. Dann stand Jake auf, um sich endgültig fertigzumachen.

Während die Jungs noch zwischen dem Badezimmer und der Küche pendelten, ging ich zu Noah, der wartend an der Haustür lehnte. Er registrierte mich erst, als ich unmittelbar vor ihm stand. In seinen Augen lag etwas apathisches. Die tiefen Ringe unter ihnen sorgten mich fast ebenso sehr wie mich der Gedanke an die nächsten Stunden verkrampfen ließ.

»Wie hast du geschlafen?«, wollte ich wissen und ließ meine Frage wie eine Nebensächlichkeit klingen.

Er zuckte mit den Schultern.

»Du siehst müde aus.«, sagte ich schließlich.

Stille.

Ich kaute auf meiner Unterlippe. Noah sah aus, als würde er hoffen, dass Miles und Jake endlich wiederkamen. Damit wäre er mich los. Das zu denken, tat ganz schön weh. Dabei hatte ich es verdient.

»Was ich dir eigentlich sagen wollte ...« Ich kratzte mich am Haaransatz. »Das war, dass ich es wirklich schön fand, gestern Abend mit dir zu reden ... und zu lachen.«

Seine Gesichtszüge versteiften sich. Plötzlich spürte ich, wie eine ungeahnte Wut in ihm zu brodeln begann. Er starrte mich mit einer Intensität an, die ich nicht allzu oft bei Noah erlebt hatte. Vermutlich hätte er in diesem Moment Feuer speien können. Feuer, mit dem er mir das Gesicht verbrannt und verkohlt hätte.

»Du hast mich abserviert, falls du es vergessen hast.«, erinnerte er mich kühl.

Flehentlich schaute ich zu ihm auf.

»Was ich gestern gesagt habe, darüber, dass ich deine Gründe nachzuvollziehen versuche, war gelogen.« Er blickte mir direkt in die Augen. »Ich wollte mich amüsieren, so wie die ganze Zeit schon.«

Autsch.

»Dann brauche ich dir ja nicht mehr zu sagen, dass ich einen schrecklichen Fehler begangen habe.«, schoss ich zurück.

Der Zorn, der seine grünen Augen zum Funkeln gebracht hatte, wurde von etwas viel stärkerem vertrieben. Verwirrung über meine Worte. Panik.

»Ich habe mich gefragt, wie ich von meiner Mum verlangen könnte, meine Gefühle für dich zu akzeptieren, wenn ich selbst schon nicht damit klar käme, hätte meine Tochter ihren Freund auf einer Flucht kennengelernt. Es würde mich fertigmachen, könnte meine Familie nicht mit meiner Liebe umgehen.«, erklärte ich ernst.

Er zog die Brauen zusammen.

»Aber am schlimmsten wäre es für mich, würde ich unsere Beziehung irgendwann den Bach runtergehen sehen. Wären wir nur noch aus Pflichtbewusstsein und Schuldgefühlen zusammen. Oder würde sich die ständige Distanz zwischen uns stellen.« Es erforderte eine enorme Konzentration, all diese Dinge ehrlich zu sagen, ohne einen Rückzieher zu machen und Noah heimzuzahlen, dass er mich angeblich ausgenutzt hatte.

Eine dunkelblonde Haarsträhne fiel mir ins Gesicht und ich klemmte sie mir wieder hinters Ohr.

»Außerdem fürchte ich mich davor, dass du die wahre Juliette nicht leiden kannst. Diejenige, die ich zu Hause bin. Diejenige, die ich in Wirklichkeit bin. Denn ich kann mich ja selbst kaum leiden.« Meine Stimme klang zittrig. Verletzlich. Sie riss meine Mauern ein und verriet, wie nahe mir das alles ging. Wie viel mir Noah bedeutete.

Ich beschloss kurzerhand, ihm nicht die Gelegenheit zu geben, erneut auf meinen Gefühlen herumzutrampeln. Stattdessen kehrte ich ihm den Rücken zu. Plötzlich fühlte ich mich einerseits erleichtert darüber, diese belastenden Gedanken nicht länger mit mir herumschleppen zu müssen. Andererseits sorgte ich mich darum, was Noah mit diesem Wissen anstellen könnte. Sogar so sehr, dass ich kaum mehr sprechen konnte.

Nicht ohne dichWhere stories live. Discover now