Kapitel 26

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Jake und Noah hatten etwas, das wie eine Karte aussah, auf der Motorhaube von unserem Wagen ausgebreitet. Konzentriert begutachteten sie das Papier, dass sie jeweils mit einer Hand festhielten, damit es nicht wegflog.

»Das ist er?«, fragte Miles halblaut, als wir am Auto stehenblieben.

»Ja, aber er ist verdammt kompliziert zu lesen.«, meinte Jake.

Ich nahm Miles die Leinentasche ab und umrundete den Wagen. Das Essen kam zurück in die Kühlboxen und die Getränke legte ich auf die Rückbank. Danach hatte ich nichts mehr zutun. Am Allerwenigsten wollte ich zu den Jungs zurückgehen, doch mich überhaupt nicht am Thema zu beteiligen, kam auch nicht infrage. Andauernd schwirrten in meinem Kopf die Gedanken an Noah. An das Leid, dass die Kälte in seinen grünen Augen auslöste, an seine raue Stimme und seine wärmende Umarmung, als wir uns wiedergesehen hatten. Ich wünschte mir, es würde einfach stoppen, doch ich konnte nichts tun gegen die Dauerschleife, die in meinem Kopf lief. Alles, was ich mich fragte, war: Wieso? ... Wieso ignorierte er mich?

Miles erschien in meinem Sichtfeld. Besorgt guckte er mich an.

»Sag nichts.«, murmelte ich.

»Wollte ich auch gar nicht.« Er lehnte sich gegen die Fahrertür.

Ich blickte zu Noah und Jake, die sich mitsamt des gefalteten Papiers von uns entfernten.

»Was hat er gegen mich?«, platzte es aus mir heraus.

Miles zuckte die Achseln. »Jake ist-«

»Nicht Jake, sondern Noah.«, unterbrach ich ihn. »Ich meine, was soll ich denn noch hier? Ich verstehe nicht, wovon ihr redet. Alles ist völlig fremd für mich.«

»Das ist dein Problem?« Miles sah zu Noah herüber. Kopfschüttelnd ließ er seinen Blick zu mir schweifen. »Julie, wir haben doch vorhin über Noah geredet.«

»Über seine Familie, aber nicht darüber, warum er sich so benimmt« Verzweifelt sah ich Miles an, »Oder worum es hierbei wirklich geht ...«

Und plötzlich dämmerte es mir. Schlagartig schaute ich auf, direkt in Miles Augen. »Es geht um seine Familie.«

Er verneinte meine Vermutung nicht.

»Ist das ein Racheakt?«, fragte ich Miles entsetzt.

»Ich weiß es nicht«, sagte er, und bedeutete mir, leiser zu sein, »Alles, was ich weiß, ist, dass du mit Noah sprechen musst, wenn du mehr erfahren willst.«

Genervt stieß ich mich vom Auto ab.

»Sag mir, was das wird!«, forderte ich. »Weil ich nämlich Pläne habe. Ich habe eine Zukunft, und ich will nicht, dass Menschen getötet werden! Da mache ich nicht mit.«

Miles spähte zu Noah, der schon seit einigen Sekunden zu uns herübersah.

»Miles!« Ich packte ihn am Arm.

»Nein, Julie!«, fuhr er mich an. »Ich mache da auch nicht mit! Genau so wenig wie Jake. Und ich glaube auch nicht, dass Noah jemanden töten wird. Dafür kenne ich ihn zu gut. ... Genau das hat mich ja stutzig gemacht.«

Verwirrt trat ich zur Seite und verschränkte die Arme vor der Brust. Noahs Augen durchbohrten mich noch immer.

»Er hat alles verloren. Jake und ich sind die Einzigen, die ihm noch geblieben sind.«, sagte Miles zu mir. »Das wird ihn bis ans Ende seines verdammten Lebens verfolgen, verstehst du? Noah wird nie wieder so sein, wie er vor alledem war.«

Vor mein inneres Auge projizierte sich das Foto des kleinen Jungen, das am Kühlschrank von Noahs Onkel gehangen hatte.

»Mein bester Freund ist kaputt. Ein Wrack. Ich habe noch nie gesehen, dass er jemanden umarmte, oder dass er sein Leben für jemand anderes als Jake und mich riskierte.«, fügte Miles hinzu. »Und jetzt ändert er sich ... Für dich.«

Mir stockte der Atem.

»Ja, du hast mich richtig verstanden.«, sagte Miles ernst. »Also wenn einer von uns sagen kann, ob dies ein Racheakt wird, dann bist das du. Ich bin mir nämlich nicht mehr sicher.«

Hilflos wendete ich meinen Blick ab. Ich dachte an die Rettungsaktion nach meiner Festnahme. Noah hätte Miles niemals geschickt, wäre es ihm nicht wichtig gewesen. Niemand setzte das Leben seines besten Freundes für etwas aufs Spiel, was nicht oberste Priorität für einen hatte. Die Zeichen waren eindeutig, aber ich war trotzdem verunsichert.

»Du meinst, er mag mich?«, stammelte ich.

Miles seufzte und packte mich für einen Moment mit beiden Händen an den Schultern. »Ja, im ernst: Er mag dich.«

Mein Herz machte einen Satz, doch noch ehe ich an etwas schönes denken konnte, überkamen mich die Zweifel. Automatisch guckte ich über Miles Schulter hinweg, dorthin, wo Noah gestanden hatte. Er war weg.

»Wieso ignoriert Noah mich?«

»Weshalb sprichst du ihn nicht einfach an?«, konterte Miles.

Weil ich ein Schisser bin. Ich biss mir auf die Lippe.

»Erwischt.«, sagte ich kleinlaut.

Auf Miles Lippen bildete sich ein triumphierendes Grinsen. Angeber. Ich verzog das Gesicht bei seinem Anblick. Vermutlich war genau das der Grund, warum Miles nur noch breiter grinsen musste, bis er das Lachen überhaupt nicht mehr unterdrücken konnte. Er warf den Kopf in den Nacken und lachte so herzlich, dass ich sofort verstand, weshalb Miles ein Freund von Noah war.

»Ey« Ich boxte ihm in den Oberarm.

»Ey«, äffte Miles mich nach. Prüfend tastete er die Stelle seines Arms ab, an der ich ihn getroffen hatte. »Wieso denkt Noah eigentlich, dass du jemanden bräuchtest, der dich beschützt? Du bist der größte Übeltäter von uns allen!«

»Überhaupt nicht!«, protestierte ich.

Miles ließ von seinem Arm ab. Gespielt vorwurfsvoll begann er, den Ärmel seines Pullovers hochzukrempeln. »Das wird ein Bluterguss ... Ein richtig großer, und der-«

»Hör auf zu jammern.« Ich verdrehte die Augen, und obwohl ich eigentlich fest entschlossen war, Miles nicht die Genugtuung zu geben, ebenfalls zu lachen, schlich sich ein glückliches Lächeln in mein Gesicht. Es ging einfach nicht anders.

Ich sah Miles ein letztes Mal an. Er nickte aufmunternd.

Dann kehrte ich ihm den Rücken zu, um Noah zu suchen.

Nicht ohne dichWhere stories live. Discover now