Kapitel 60

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Es zermürbte mich, doch ich musste mir eingestehen, ich hatte es versaut. Es war meine eigene Schuld, dass ich nun litt und Noah vermisste. Und vielleicht würde er mir niemals verzeihen. Auch das hätte ich verdient.

»Kann ich dich etwas fragen?« Jake klang ungewöhnlich gefasst. Wahrscheinlich war es genau das, was mich plötzlich so besorgte.

Ich legte die Hände um meine Beine. »Schieß los.«

»Willst du abhauen?«, fragte er geradeheraus.

»Wie meinst du das?«, hakte ich nach.

»Ziehst du in Erwägung, einfach ins Auto zu springen und wegzufahren?« Seine Augen durchbohrten mich.

»Nein.«, sagte ich zögerlich. »Eigentlich habe ich noch überhaupt nicht daran gedacht. Du etwa?«

Jake zuckte mit den Achseln. »Denkst du nicht, dass Miles alleine zurückkommen wird?«

Erschrocken riss ich die Augen auf. Ich war drauf und dran, aufzuspringen und hinauszustürmen, um Noah und Miles zu suchen. Falls die Chancen wirklich so schlecht standen, Noah noch einmal zu sehen, durfte das Gespräch von vorhin nicht unser letztes gewesen sein.

»Du magst ihn ja wirklich.« Jake blinzelte.

Schweigend sah ich ihn an.

Er räusperte sich. »Wieso machst du dann so einen Mist mit ihm?«

»Weil ich dachte, dass ich Angst um meine Familie habe.«, antwortete ich nachdenklich.

»Wie, du dachtest es?« Jake spielte ungeduldig mit den Fingern.

Ich sackte in mir zusammen. »Ich meine, ich habe Angst um meine Familie. Vielleicht habe ich aber größere Angst davor, mich später von Noah trennen zu müssen. Nicht heute, nicht morgen, sondern, wenn wir frei sind und denken, dass wir glücklich sein sollten.«

»Also hast du Angst davor, dass eure Beziehung zu einer Verpflichtung wird, weil ihr einander so tief in der Schuld steht?«, wollte Jake wissen.

Ich nickte. »Wir stehen einander doch in der Schuld, oder? Er hat mir das Leben gerettet und ich ihm.«

Jake dachte einen Augenblick nach.

»Man könnte auch sagen, ihr seid quitt.«, meinte er schließlich.

Mein Gehirn arbeitete wie verrückt, aber zu einem besseren Ergebnis als Jake kam ich auch nicht.

»Was ist, wenn sich meine Eltern vor ihm fürchten?« Ich schluckte schwer.

Unglaublich, dass ich so verzweifelt war, meine Sorgen einfach anzusprechen. So offen war ich noch nie gewesen. Nicht mal von meinen Zukunftsplänen hatte ich jemandem erzählt. Nicht meiner Mum, nicht meinem Dad, auch nicht Conor. Nur Noah.

Jake kratzte sich am Kinn. Es machte mich nervös, wie er mich beobachtete.

»Was ist, wenn sie Noah nicht in meiner Nähe wissen wollen?«, schob ich nach.

»Was wäre, wenn deine Eltern Noah toll fänden?«, entgegnete Jake gelassen. »Du stellst dir zu viele »wenn«-Fragen.«

Ich runzelte die Stirn. »Was soll das heißen?«

»Das heißt, du lebst nicht im Hier und Jetzt, sondern steckst gedanklich irgendwo in der Zukunft fest, die du ohnehin nicht allzu sehr beeinflussen kannst.«

»Ich bin nunmal gerne vorbereitet.«, sagte ich ärgerlich.

Jake belächelte meine Worte, was den Zorn in mir nochmal richtig anheizte.

»Du bereitest dich nicht vor. Du steigerst dich rein, verdirbst dir dein ganzes Leben und irgendwann ist es vorbei und du hast nur geplant und kein einziges Mal den Moment genossen.«, sagte er.

Mir wurde heiß und kalt vor Wut. Ich stand kurz vorm Platzen. In meiner momentanen Verfassung würde das vermutlich in einem unangenehmen Weinkrampf enden. Also bemühte ich mich, die Fassung zu bewahren.

»Dieses ›unnötige‹ Planen gibt mir Halt.«, erklärte ich trotzig, ehe mir etwas völlig anderes in den Sinn kam, das mich noch viel mehr in Schrecken versetzte. »Warte ... Wie hast du das gemeint, als du sagtest, dass Miles alleine wiederkommen wird? Weshalb sollte er Noah nicht finden? Er würde sich doch nicht vor Miles verstecken?«

»Verstecken? Wie alt bist du? Zehn?« Jake verzog das Gesicht. »Noah ist sein Leben lang vor etwas auf der Flucht gewesen. Erst waren es seine Gefühle, danach waren es die Cops.«

»Und jetzt sind es wieder seine Gefühle?« Alarmiert guckte ich Jake an.

»Es ist alles. Er war doch schon vorher vollkommen durch den Wind. Immer nur auf der Suche nach Gerechtigkeit, ständig in Sorge. Er fühlte sich wie ein Gejagter.«, erklärte Jake. »Was Noah erlebt hat, kann man nicht in Worte fassen. Egal wie drastisch du es verpackst, es würde zu simpel sein. Er hat sich verändert seit der Highschool, wo wir uns kennenlernten. Immer stärker. Hat niemanden mehr an sich herangelassen.«

»Wegen des Mordes an seiner Familie?«, fragte ich.

Jake stützte die Arme auf. »Nein, wegen allem, was er durchmachen musste. Du wirst sehen, wenn du nach Hause kommst, bist du nicht mehr dieselbe Person wie vor dieser Flucht.«

Ich schwieg bedrückt.

»Falls Noah also nicht zurückkommt, sondern abhaut, werde ich für ihn lügen. Ich würde alles in meiner Macht stehende tun, damit er endlich Frieden schließen kann.«, sagte Jake fest entschlossen.

Unwillkürlich erinnerte ich mich an unsere Auseinandersetzung, weil ich Noah das Antibiotikum hatte besorgen wollen und Jake nicht. Vielleicht hatte er gedacht, dieser schleichende Tod hätte Noah endlich die Ruhe gegeben, die er zwingend brauchte. Womöglich hatte selbst Miles gesehen, wie schlecht es um Noah gestanden hatte. Nur ich hatte es wieder mal nicht mitbekommen, sondern war gedanklich in meine Ängste abgedriftet und hatte mich erst wieder eingefunden, als es längst zu spät war.

»Es ist meine Schuld.«, murmelte ich.

Eine Minute blieb es still im Wohnzimmer. Unzumutbar still. So still und erdrückend, dass es mich fast zerriss.

»Mach es wieder gut.«, sagte Jake kaum hörbar. »Aber hör diesmal, verdammt nochmal, nicht auf Miles.«

»Er wollte auch nur das Beste für Noah.«, wisperte ich.

»Manchmal ist das, wovon wir denken, es sei das Beste, überhaupt nicht das Beste für eine andere Person. Wir können nämlich immer nur von uns selbst ausgehen.« Jake heftete seine Augen auf den Fußboden, wo total zusammenhanglos ein Aktenordner herumlag.

Nach wenigen Sekunden öffnete er noch einmal den Mund. Sein weicher gewordener Blick wanderte langsam zu mir, als er anfing, leise zu sprechen. »Eigentlich ... ist das, was ich gesagt habe, nicht wahr. Noah war weniger durch den Wind ... Es tobte viel mehr ein starker Wirbelsturm in ihm und um ihn herum, der alles in seiner Nähe zerfetzte. Und, Julie, erst als er dich traf, legte sich der Sturm. Du hast ihm alles bedeutet. Ich habe es in seinen Augen gesehen. Leider habe ich es aber erst viel zu spät begriffen, als wir gerade aus dem MCC rauskamen.«

Ich zwang mich dazu, nicht wieder zu weinen. Jake musste mich bereits für eine Heulsuse halten. Trotzdem spürte ich, wie heftige Emotionen in mir aufkamen, wie sie mich fluteten und mich der Schmerz in meiner linken Brust grausam folterte.

»Was jetzt?« Ich fuhr mir über die Augen.

Jake zuckte die Achseln. Seine Finger kreisten auf der Lehne des Sessels.

»Es ist von großem Vorteil, die Fehler, aus denen man lernen kann, recht früh zu machen.«, zitierte er.

Erstaunt blickte ich ihn an und gewann den Kampf gegen die Tränen. »Das ist von Churchill. Ich wusste nicht, dass du ... dich mit sowas befasst.«

»Ich habe eben viele Talente.«, antwortete Jake knapp und stand auf, um in die Küche zu gehen. Auf halber Strecke schaute er mich ein letztes Mal an und sagte halb im Spaß, halb ernst: »Lass es mich nicht bereuen, dich nicht umgebracht zu haben, als ich die Chance dazu hatte.«

Nicht ohne dichWhere stories live. Discover now