Kapitel 16

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Noah blickte in den Wald zurück, durch den wir gekommen waren. Er rieb sich mit dem Handrücken über die Stirn und verschmierte somit den Dreck und die winzigen Schweißperlen auf seiner Haut.

»Okay« Noah machte zwei Schritte rückwärts, bevor er mir den Rücken zukehrte und geradeaus durchs Wasser davonlief.

»Wir folgen dem Fluss.«, verkündete er halblaut.

Ich setzte mich in Bewegung und das merkwürdige Gefühl, dass Noah seinen Plan zum zweiten Mal für mich geändert hatte, verfolgte mich.

Die Steine, die sich im Fluss befanden, waren teilweise so spitz, dass ich sie durch meine Schuhsohlen hindurch spüren konnte. Glücklicherweise war das Wasser an den tiefsten Stellen nur knietief und relativ klar. So konnte ich verhindern, mich auch noch an dem anderen Knöchel zu verletzen.

Wir entdeckten keinen einfacher zu erklimmenden Weg mehr auf der anderen Seite des Waldgebiets. Also gingen wir zurück auf die Seite, wo wir hergekommen waren. Die Bäume wurden immer vereinzelter und Noah umklammerte die Waffen, von denen er jetzt in jeder Hand eine trug, zunehmend fester.

Vielleicht hätte ich doch die Pistole nehmen sollen. Nur zur Sicherheit, und damit Noah wenigstens eine Hand frei hatte, um sich zu wehren oder abzustützen, würde er unglücklich fallen.

Ich lauschte den fremden Geräuschen im Wald. Die Vögel zwitscherten immer noch, aber die Motorengeräuschen waren verstummt. Es war verdächtig ruhig geworden. Ob unsere Verfolger die Jagd nach uns aufgegeben hatten? Es war sicherlich auch nicht gerade unauffällig, mit großen Fahrzeugen durch die kleinen Ortschaften zu fahren und scheinbar willkürlich in den Wald zu schießen. Irgendwem fiel so etwas immer auf, und eine Menschenansammlung galt es in dieser Situation zu vermeiden.

Nach etwa einer weiteren Meile, erreichten wir die Straße. Blöderweise hatte ich den Teil der Fahrt verschlafen, als wir hier vorbei gefahren waren, sonst würde ich mich bestimmt an irgendwelche Details erinnern und könnte Noah nun behilflich sein. Anscheinend war das jedoch gar nicht nötig, denn Noah kannte sich aus. Er führte uns an einer Bushaltestelle und einem alten Bauernhof vorbei. Das Rauschen des Flusses war kaum noch zu hören, als mit einem Mal ein Schuss fiel. Ich fuhr zusammen. Angst lähmte mich, während Noah die Pistole lud. Er schob mich zur Seite, ins Gebüsch hinein, und stellte sich vor mich ins hohe Gras. Hinter mir, von wilden Pflanzen bewachsen, befand sich die Seitenwand eines alten Stalls.

Noch ein Schuss ertönte. Er war ohrenbetäubend und kam von ganz nah. Noah guckte sich, die Gegend kontrollierend, um. Es dauerte nicht lange, da machte er eine Gestalt an der Bushaltestelle, die wir soeben hinter uns gelassen hatten, aus.

Ohne zu zögern zielte Noah. Er schoss dreimal hinter einander. Jedesmal zuckte ich vor Schreck zusammen.

Während Noah die Stellung hielt, pirschte ich mich an der Stallwand vorbei in den nahegelegenen nächsten Waldabschnitt. Würden wir uns einen Weg durch die Brombeersträucher frei schlagen - vielleicht mit einem Stock - , könnten wir relativ schnell zurück zum Fluss gelangen. Noah musste den Hang hinauf klettern. Denn auf unsere jetzige Weise, so dicht an der Straße, und immer parallel zu unseren Gegnern, kämen wir nicht weit. Irgendwann endete schließlich jeder Wald, und genau an diesem Ort würden unsere Feinde auf uns warten und sich köstlich darüber amüsieren, wie wir ihnen in die Falle tappten.

Eilig lief ich zurück zu Noah. Er hockte im Gras, getarnt durch einen wilden Strauch mit Blättern so groß wie meine Hände, und Dornen, die mir so scharf und spitz wie Messer erschienen.

Als Noah mich endlich wahrnahm, zog er sich aus dem Strauch zurück. Gemeinsam schoben wir uns an der Stallwand entlang und steuerten auf die Brombeersträucher zu. Ich nahm mir einen Stock und peitschte gegen die widerspenstigen Zweige. Noah behielt stets unseren Verfolger im Blick, der sich keine große Mühe gab, uns sofort zu erschießen. Entweder wartete er auf irgendetwas ... oder er wollte uns in eine bestimmte Richtung treiben und erreichte sein Ziel hiermit.

Zum Glück dauerte es nicht allzu lange, bis wir die Sträucher hinter uns ließen und bloß noch hellgrünem Farn und Steinen ausweichen mussten.

»Sie wollen uns in die Enge treiben.«, sagte ich zu Noah.

»Ja, sie haben wohl irgendwas vor.«, stimmte er zu, und klang dabei weniger alarmiert als ich. Wahrscheinlich war er nur ein besserer Lügner. Denn wenn ihm sein Leben egal war, gäbe es keinen Anlass, zu fliehen. Zu leicht hätte sich Noah mit einer der Waffen den alles entscheidenden Schuss geben oder sich seinen Gegnern stellen können. Er müsste theoretisch nichtmal leiden, aber ganz offensichtlich gab es noch mindestens einen letzten Grund für ihn, am leben zu bleiben.

Sonnenstrahlen fielen durch das sich lichtende Blätterdach des Waldes. Der dunkle Erdboden, der von den Früchten der Bäume gesäumt war, wurde langsam heller. Gräser wuchsen an dieser Stelle. Sie waren kniehoch und im leichten Wind, der uns die Haare zerzauste, als wir über eine Lichtung rannten, flogen etliche Pollen und Blütenstaub durch die Luft.

Mir war schummrig. Ich lechzte nach Wasser, doch wir konnten keinen Zwischenstopp machen. Wir hätten nicht einmal gewusst, ob das Wasser im Fluss zum Trinken geeignet war, und all unsere Sachen befanden sich im Pick-Up und im Haus von Noahs Onkel.

»Pass auf!« Noah bremste schlagartig ab.

Ich tat es ihm gleich. »Was denn?«

Er schien ziemlich wackelig auf den Beinen zu sein nach unserem letzten Sprint. Wahrscheinlich fehlte Noah das Wasser genau so sehr wie mir.

»Sie sind da«, murmelte er.

Ich drehte mich um meine eigene Achse, um sicherzugehen, dass nicht schon jemand hinter mir stand. Als ich endlich Noahs Wink mit dem Kinn folgte, entdeckte auch ich die Autos, die auf grauem Asphalt standen. Doch die Wagen waren nicht groß und schwer, wie ich mir, den Geräuschen nach zu urteilen, die Autos unserer Gegner vorgestellt hatte. Nein, diese hier sahen aus wie stinknormale Streifenwagen, und sie schnitten uns den Weg über die Straße ab, die sich anscheinend hinter der Lichtung und den restlichen Bäumen befand.

»Es sind die Cops«, stieß ich hervor.

Schwer atmend ging Noah weiter, jetzt hingegen nur noch im Schritttempo. Skeptisch folgte ich ihm.

»Deshalb haben sie uns in Ruhe gelassen ...« Noah hielt inne.

»Weil sie uns in die Arme der Cops rennen lassen wollten?«, fragte ich.

»Nein, ... Zumindest nicht vorsätzlich.« Er schaute sich um. »Aber wo sie die Chance schonmal haben, überlassen sie wahrscheinlich den Cops die Drecksarbeit und erledigen mich bei einem Besuch im Gefängnis.«

Der permanente Schwindel, der durch die Anstrengung, die heiße Sonne und meine Dehydrierung entstanden war, wurde schlimmer. Punkte blitzten vor meinen Augen und wüste Linien zogen sich durch mein Sichtfeld.

Ich konnte fühlen, wie Noah meinen Arm umfasste. Er zog mich mit sich. Ich hatte nicht den blassesten Schimmer, was er vorhatte. Nur eines war mir in Anbetracht der vielen Streifenwagen völlig bewusst: Würde sich Noah nicht stellen, würde er an diesem Nachmittag sterben.

Nicht ohne dichWhere stories live. Discover now