Kapitel 44

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Ich hatte das Gefühl, mein Herz würde mir vor Glück aus der Brust springen. Stumm lächelnd schaute ich zu Noah auf. Seine Gesichtszüge waren ganz weich und in seinem Blick lag etwas liebevolles, beschützendes, das ich bislang noch nie an ihm gesehen hatte. Sanft zog er mich dichter an sich. Sein Kinn streifte meinen Haaransatz. Meine Wange berührte seine Brust und ich spürte sein Herzklopfen an meinem Ohr. Instinktiv schlang ich die Arme um seinen Körper. Ich hatte das Verlangen, Noah ganz fest zu halten und nie wieder loszulassen. Nie wieder.

»Hände hoch! Ich will Ihre Hände sehen!«, schrie jemand. Die Stimme ging mir durch Mark und Bein, und ich wagte es nicht, mich von Noah zu lösen, weil mich plötzlich solch eine schreckliche Angst durchfuhr, dass ich mich wie gelähmt fühlte.

»Lösen Sie sich ganz langsam voneinander! Nehmen Sie die Hände hoch!«, wies uns jemand an. Es war eine tiefe Männerstimme.

Noah strich mir beruhigend über den Rücken, ehe er wie in Zeitlupe die Hände von mir nahm und sie in die Luft streckte. Das pure Glück, welches ich soeben noch gefühlt hatte, verging schlagartig und die Wärme, die Noahs Hände auf meinem Körper hinterließen, verblasste.

Ich tat es Noah gleich. Langsam löste ich meine Hände von seinem Nacken und zwang mich dazu, einen kühlen Kopf zu bewahren. Noah nickte mir fast unmerklich zu, als wollte er damit sagen: Ist schon okay. Ich bin da.

Dann hob ich die Arme. Parallel dazu kehrte ich Noah den Rücken zu. Unsere Körper waren sich so nahe, dass sie sich fast wieder berührten, doch daran war nicht zu denken. In mein Sichtfeld schoben sich zwei Männer und eine blonde Frau mit Pferdeschwanz. Sie trug ein T-Shirt, darüber eine Sicherheitsweste. Die beiden Männer trugen schwarze Jacken aus dünn aussehendem Stoff. Auf der linken Brust waren gelbe Buchstaben aufgenäht, die ich zuerst nicht entziffern konnte.

»Noah Johnson und Juliette Moore; Ich verhafte Sie wegen Mordes, Diebstahls und Widerstands gegen die Staatsgewalt.«, rief der eine Mann. Die Frau näherte sich mir. Ich nahm meine Hände runter, und sie packte grob meine Handgelenke, um sie mir auf den Rücken zu pressen und Handschellen anzulegen.

»Sie haben das Recht zu schweigen. Alles, was Sie sagen kann und wird vor Gericht gegen Sie verwendet werden. Sie haben das Recht auf einen Anwalt. Falls Sie sich keinen Anwalt leisten können, wird Ihnen ein Anwalt zur Verfügung gestellt.«, sagte die Frau, während sie mich am Arm festhielt und in Richtung des Autos führte. Sofort musste ich an Jake und Miles denken. Ich drehte den Kopf und sah zu Noah. Der dunkelhaarige Mann griff gewaltsam nach seinen Armen und zerrte sie nach hinten. Dabei fiel mein Blick wieder auf die gelbe Aufschrift der Jacke. »FBI«, las ich, und mir wurde augenblicklich schwindelig. Die Handschellen klickten leise. Kurz darauf wurde Noah ebenfalls abgeführt.

Schwere Regentropfen trafen uns. Zwei weitere FBI-Männer standen bewaffnet zu beiden Seiten des Chevrolets. Sie hatten ihre Pistolen auf die Fahrer- und Beifahrerseite gerichtet. Ich heftete meine Augen auf sie und verfolgte das Szenario angespannt.

Die Autotüren wurden geöffnet, die Waffen in das Pistolenholster zurückgesteckt. Der muskulöse Kerl packte Jake am Arm und zerrte ihn aus dem Chevrolet hinaus in die abgekühlte Morgenluft. Regen benetzte seine dunkelblonden Haare. Jake stellte sich breitbeinig mit einem halben Meter Abstand zum Auto hin. Sein Gesicht zeigte zu Miles, der auf der gegenüberliegenden Seite verhaftet wurde, seine Hände prallten auf das Dach des Autos und der Mann hinter Jake begann, ihn grobflächig abzutasten.

Meine Handgelenke schmerzten. Ich wollte mich gegen die Hand auf meinem Rücken, die mich konstant immer weiter nach vorne schob, wehren, aber je mehr ich mich bewegte, desto grober wurde ich in die richtige Richtung geleitet. Mein Blick glitt von Jake zu Noah. Er war bereits an einem schwarzen Range Rover mit getönten Scheiben angekommen. Der FBI-Mann machte eine auffordernde Handbewegung. Die Frau hinter mir legte ihre Finger um meinen Oberarm und führte mich zu ihrem Kollegen. Ich stieg zu Noah in den Wagen, dann klappte die Hintertür auch schon zu.

»Die sind vom FBI.«, flüsterte ich ängstlich und sah Noah mit geweiteten Pupillen an.

Er erwiderte meinen Blick, doch sagte kein Wort.

»Was wird mit uns geschehen?«, fragte ich ihn, obwohl ich mir die Antwort hätte denken können.

Noah biss sich auf die Unterlippe. Er senkte seinen Kopf für wenige Sekunden, ehe er mich wieder und diesmal um einiges ernster anguckte. Er bemühte sich sichtlich, die Kontrolle nicht zu verlieren. »Ich war noch nie in dieser Situation, aber ich denke, wir werden vernommen und bis zu den Verhandlungen in eine Zelle gesteckt.«

»Noah-« Ich brach ab. Tränen stiegen mir in die Augen. »Was können wir noch tun?«

»Nichts.«, sagte er.

»Was ist mit Miles und Jake?«, wollte ich wissen. Panik stieg in mir auf.

Die Wärme war aus Noahs Blick verschwunden. Seine Mimik wechselte von schuldbewusst zu kühl, sodass ich keine Chance hatte, an ihn heranzukommen. »Ich werde versuchen, euch da rauszuhalten. Auch wenn ich nicht den blassesten Schimmer habe, inwiefern das möglich sein wird.«

»So habe ich das nicht gemeint.«, murmelte ich verzweifelt.

»Warum habt ihr mir nur das Leben gerettet?«, fuhr er mich an. »Ihr hättet längst über alle Berge sein können!«

Geschockt starrte ich Noah an. Für einige Sekunden war es totenstill im Auto. Gedanklich ging ich den Streit mit Miles und Jake noch einmal durch. Ich erinnerte mich an meine Furcht vor der Minute, in der Noah diese Blutvergiftung nicht mehr überlebt hätte, dachte an unsere Fahrt zur Apotheke und die arme Frau, die wir völlig verängstigt hatten. Wir waren beinahe genau so skrupellos gewesen wie Bruce Edwards Leute. Zwar hatten wir die Apothekerin und etliche weitere Menschen nicht getötet, aber in Gefahr gebracht. Und vielleicht hatten wir ihnen ein Stück ihrer inneren Sicherheit und ihres Urvertrauens geraubt, dass sie dadurch unwiderruflich verloren hatten und nie wieder bekommen würden. Ich wünschte, es gäbe eine Antwort darauf, was zu tun war, wenn das Leben eines Freundes in Gefahr schwebte. Durfte man dieses und sein eigenes Leben über das der anderen stellen? Hatten wir richtig gehandelt?

»Entschuldige.« Noah atmete aus. »Das sollte kein Vorwurf sein.«

»Ist okay.«, sagte ich und dachte fieberhaft darüber nach, ob eine Verhaftung nicht sowieso irgendwann auf uns zugekommen wäre. Niemand könnte ewig auf der Flucht sein. Selbst in Freiheit war man immer ein Gefangener. Man durfte nicht Vertrauen. Ständig wurde man vom eigenen Misstrauen gegenüber seinen Mitmenschen begleitet. Jeder Blick wurde bis ins kleinste Detail auseinandergenommen und bewertet. Es war anstrengend und verdammt Kräfte zehrend, kein zu Hause zu haben und niemals abschalten zu können. Man war rastlos. Vollkommen auf sich gestellt und dazu gezwungen, alles aufzugeben und unter sich zu bleiben. Ich glaubte, diese tödliche Stille abends beim Einschlafen nicht mehr auszuhalten. Wirklich lebenswert war dieses Leben nicht. Eine Erkenntnis, die mir unter dem Einfluss des Adrenalins, das zeitweise en masse durch meine Adern geströmt war, wahrscheinlich niemals gekommen wäre.

Nicht ohne dichWhere stories live. Discover now