Kapitel 56

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Der Nachmittag verlief fast wie geplant. Noah und Jake machten große Fortschritte, was die Entschlüsselung der einzelnen Symbole auf den Bauplänen anging. Miles recherchierte über Edwin Hernandez und ich sollte mir eigentlich ein Ablenkungsmanöver ausdenken. In meinem Kopf war jedoch nur Noah. Ich blätterte planlos durch die Akten von Agent Roberts, nicht darauf gefasst, tatsächlich noch irgendetwas brauchbares zu finden. Eigentlich wollte ich nur schweigend dasitzen, nicht an morgen denken und das Papier unter meinen Fingerkuppen fühlen.

Noah und ich mussten uns unterhalten. Jetzt, wo wir nicht wissen konnten, ob wir diese Geheimoperation überleben würden, um für den schlimmsten und für den besten Fall vorzusorgen. Ich konnte diese Ungewissheit nicht ertragen. Vielleicht könnte ich es nicht mal aussprechen. Ich sollte womöglich Schluss machen, denn spätestens, wenn Noah erkennen würde, dass wir uns in nicht allzu ferner Zukunft sowieso trennen müssten, würde es mindestens einem von uns extrem schlecht gehen. Falls das vermeidbar war, müsste ich diesen Weg nehmen. Nicht dass es die gesamte Operation zunichte machen würde, so wie jetzt, wo schon Miles, aus Sorge um Noah, und ich völlig durcheinander waren.

Fest entschlossen lehnte ich mich mit dem Rücken gegen den Sessel, in dem Jake die meiste Zeit heute verbracht hatte. Es fühlte sich merkwürdigerweise gar nicht so schlimm an, zu wissen, dass Noah und ich niemals wieder das erleben könnten, was noch vor einem Tag hauptsächlich meine Gedanken bestimmt hatte. Der Kuss. Eigentlich war es nicht nur der eine. Es waren all die zärtlichen Küsse, die Noah leidenschaftlich meinen Hals hinunter verteilt hatte. Das berauschende Gefühl, seine Lippen auf meinen zu spüren. Das wilde Pochen meines Herzens und die Schmetterlinge in meinem Bauch. Ich war unwiderruflich in ihn verliebt, doch wieso zerbrach mein Herz nicht bei dem Gedanken daran, unsere Beziehung zu zerstören? War ich mir insgeheim sicher, es sowieso niemals über mich bringen zu können?

Ich überschlug eine Seite in der Akte und richtete meine Augen auf das zerknitterte Papier. Es sah alles andere als formell aus. Eher wie ein Hinweis, den jemand zwischenzeitlich zerknüllt und frustriert in einen Papierkorb - oder Abfalleimer - geworfen hatte. Ich wollte gerade die anderen auf meinen Fund aufmerksam machen, da entdeckte ich eine handschriftliche Notiz, die vermutlich von Agent Roberts stammte.

»Anonymer Hinweis, möglicher Zeuge?«, las ich tonlos.

In meinem Kopf ratterte es. Ich schlug die Akte zu und schob sie von meinem Schoß. Dann stand ich auf und ging in die Küche. Mein Glas von heute früh stand noch auf der Theke, also füllte ich es mit Leitungswasser und trank, während ich mich an der Theke abstützte und zu den Jungs blickte. Die Flip-Chart war nun von einem Zeitstrahl versehen. Fleißig notierten sie Informationen, die sie danach wiederum den Daten des Zeitstrahls unterordneten.

Ich zog das Foto von Noah aus meiner Hosentasche. Mittlerweile hatte es mehrere Knicke und die Ecken hatten Eselsohren. Andächtig fuhr ich mit dem Finger über die Wangen des Jungen auf dem Foto. Mein Herz schmerzte. Plötzlich kam mir eine Idee.

»Wann kann Agent Roberts herkommen?«, fragte ich, als ich mit dem Wasserglas in der Hand zu den Jungs zurückkehrte.

Noah schaute auf. Ich wich seinem Blick aus und stellte das Glas auf dem Couchtisch ab.

»Ich denke, morgen früh wäre eine gute Gelegenheit, mal über alles zu sprechen, was wir herausgefunden haben.«, sagte Noah schließlich.

Ich sah ihn kurz an. Besorgnis hatte sich in seinem Gesicht ausgebreitet. Jake guckte mit hochgezogenen Augenbrauen zwischen uns hin und her. Miles reagierte gar nicht, obwohl das eigentlich nicht seine Art war. Vermutlich war er noch immer wütend auf mich. Aber was sollte ich schon sagen? Dass es mir leid tat? Es würde nichts ändern.

»Das sieht gut aus.« Ich heftete meinen Blick auf die Flip-Chart und nickte anerkennend. Dann setzte ich mich auf die Couch. »Könnt ihr mir das Handy geben? Ich würde gerne mit Agent Roberts sprechen und könnte dabei auch gleich von unserem Fortschritt berichten.«

»Klar.«, meinte Noah und reichte mir das Telefon.

»Danke.«, sagte ich leise. Unterdessen hielt ich das Handy fest in der Hand.

Noah sah vom Fußboden zu mir hinauf. »Worüber willst du mit Agent Roberts sprechen?«

Für einen Moment war es still im Raum. Dann schluckte ich den Kloß in meinem Hals herunter, um vernünftig antworten zu können.

»Es geht bloß um meine Familie.«, log ich und drehte mich um. Keiner widersprach oder hielt mich auf, als ich die Treppe ins Obergeschoss hinauflief.

Oben angekommen ging ich in Noahs und mein Zimmer. Die Bettdecke hing unordentlich über der Bettkante und eines der Kopfkissen lag noch immer auf dem Fußboden, weil Noah heute morgen beim Suchen seiner Socken beinahe das Zimmer zerlegt hätte.

Ich schloss die Tür hinter mir und setzte mich aufs Bett. Mit dem Foto von Noah in der linken Hand, hielt ich einige Sekunden inne. Anschließend wählte ich die einzige gespeicherte Nummer im Telefonbuch mit den Initialen A.R. .

»Hallo«, meldete sich Agent Roberts am anderen Ende der Leitung.

»Hallo, wissen Sie, wer hier ist?«, fragte ich.

»Sicher.«, gab er zurück.

Ich atmete tief durch.

»Haben Sie etwas erreichen können?«, wollte Agent Roberts wissen.

»Ja, eine Menge. Falls es Ihnen passt, könnten wir uns morgen früh treffen.«, antwortete ich.

Agent Roberts schwieg. Im Hintergrund hörte ich Schritte und ein Klicken, wie wenn jemand eine Tür hinter sich zudrückte.

»Ich bin jetzt in meinem Büro.«, erklärte Agent Roberts. »Morgen früh passt perfekt.«

»Okay.« Ich haderte mit mir.

»Ist noch was, Juliette?« Agent Roberts Stimme klang freundlich, jedoch ein wenig nervös.

»Ja.«, sagte ich und versuchte, mich zusammenzureißen. »Ich habe in der Akte einen Zettel gefunden und dazu die Notiz: Anonymer Hinweis, möglicher Zeuge.«

»Die Notiz stammt von mir.«, gestand Agent Roberts sofort.

Ich räusperte mich und blickte hinab auf das Foto von Noah, entschlossener denn je, alles für ihn zu geben. »Ich wüsste gerne, wer dieser mögliche Zeuge ist. Könnten Sie das herausfinden?«

Agent Roberts stockte.

»Bitte, es ist wichtig. Finden Sie es für mich heraus.«, bat ich.

Nach kurzem Zögern willigte Agent Roberts ein.

»Wenn Sie wegen der Informationen anrufen, sagen Sie bitte, es ginge um meine Familie.« Ich legte das Foto aufs Bett und ging zur Zimmertür. »Ist das möglich?«

Agent Roberts schien perplex.

»Ja. Ja, selbstverständlich.«, sagte er dann. »In Ordnung, ich melde mich.«

Danach legten wir auf.

Nicht ohne dichWhere stories live. Discover now