Kapitel 47

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Einige Stockwerke tiefer befanden wir uns in einem Trakt, der von stabilen Türen gesäumt war. Die Wände waren schneeweiß und der Fußboden bestand aus grauem Linoleum.

Der Wärter begleitete mich den Flur hinab bis zu einem Raum, dessen Tür angelehnt war. Ein Mann mit Anzug und passender Krawatte stand vor dem Zimmer, als würde er es bewachen. Die Beine auseinander, die Hände gefaltet und die Augen wachsam.

»Bringen Sie sie rein.«, rief jemand, der sich uns mit schnellen Schritten näherte. Ich drehte den Kopf und entdeckte Agent Roberts, dessen dunkelblaues Jackett im Laufen nach hinten wehte.

»Soll sie wirklich zu dem Jungen?«, hakte der Mann nach, der die Tür bewachte.

Der Wärter neben mir schien verwirrt. »Was denn nun?«

»Bringen Sie sie rein. Er hört auf sie, und ich will nicht, dass er vor Misstrauen denkt, wir seien sein Feind.«, erklärte Agent Roberts, kaum dass er bei uns angekommen war. Dann nickte er mir freundlich zu. »Hallo, Juliette.«

»Hallo.«, entgegnete ich schüchtern. Alles, an das ich denken konnte, war Noah. Befand er sich hinter der grauen Tür? Wartete er bereits auf mich?

»Nehmen Sie ihr die Handschellen ab. Die beiden können nirgendwohin und ich will auf halbwegs zivilisiertem Wege mit ihnen sprechen.«, ordnete Agent Roberts an.

Der Wärter gehorchte. Also wurden mir die Handschellen abgenommen und die Tür ein wenig geöffnet, sodass ich durch den Spalt in den Raum hineinschlüpfen konnte. Die Neonröhren waren an und erleuchteten das Zimmer, das genau so aussah, wie jenes von gestern. Motorengeräusche von draußen drangen durch die Wände und Fenster, sodass mir wieder bewusst wurde, das ich mich in einer Großstadt befand.

»Julie«

Augenblicklich wurde ich langsamer. Mein Blick huschte suchend durch den Raum. Dann bemerkte ich Noah, auf einem Stuhl in der Ecke sitzend. Seine Ellenbogen waren auf seinen Oberschenkeln abgestützt und es sah aus, als hätte er soeben erst den Kopf aus den Händen genommen. Mein Herz klopfte schneller

Noah sprang auf. Der Stuhl kippte dabei fast um, doch er bekam davon nichts mehr mit. Eilig kam Noah mir entgegen. In meinem Bauch machte sich ein flatteriges Gefühl breit. Dann, für den Bruchteil einer Sekunde, wirkte Noah verunsichert, so, als wüsste er nicht, ob eine Umarmung angemessen wäre. Ich lächelte schmerzhaft, und schließlich machte er den letzten Schritt auf mich zu und zog mich ohne weiter nachzudenken in seine Arme. Ich legte die Hände auf seinen unteren Rücken und schmiegte meine Wange an seine Brust. Der Stoff seines Oberteils war warm und es roch nach ihm.

»Wir müssen auf das Angebot eingehen.«, flüsterte ich entschieden, klammerte mich an Noah, in der Angst, ihn wieder zu verlieren und atmete seinen Duft ein. Es fühlte sich so gut an, ihm nahe zu sein.

Langsam löste er seine Arme von meinem Körper und sah mich aus unergründlichen Augen an.

»Noah, wir haben doch keine andere Wahl!«, erklärte ich hilflos.

»Mir wird etwas einfallen.«, murmelte er beschwichtigend und nahm meine Hand. Am liebsten hätte ich ihm einfach geglaubt und bedingungslos vertraut, aber aus dem Gefängnis könnte uns selbst Noahs bester Plan nicht befreien.

»Hast du die Gitter am Fenster gesehen?«, fragte ich ernst.

Stille.

Noah mied meinen Blick. Er ließ meine Hand los und rieb sich mit den flachen Händen über das Gesicht. »Gut, wir machen es.«

Plötzlich fühlte sich meine Kehle staubtrocken an. Ich befeuchtete meine Lippen und legte die Hand auf seinen Arm, um diesen herunterzuziehen. Noah gab nach und ließ die Hände von seinem Gesicht sinken. Verzweifelt guckte er mich an. Seine Augen waren gerötet, als hätte er in der vergangenen Nacht ebenfalls geweint, seine Stirn lag in Falten und die Mundwinkel waren schmerzverzerrt. Es traf mich wie der Schlag. Miles Worte hallten in meinen Ohren wider, und mir wurde bewusst, dass das, was ich insgeheim nicht wahr haben wollte, vielleicht doch wahr war. Irgendetwas in Noah schien schrecklich kaputt gegangen zu sein, als er erst seine Eltern und anschließend seinen Onkel verloren hatte. Er vertraute nicht. Das war unabhängig von dieser Flucht, denn es war ihm schlichtweg nicht mehr möglich. Noah war wie ein Ertrinkender, der sich noch ganz knapp über Wasser hielt.

Es dauerte keine Minute, bis ich wusste, was zutun war. Ich ließ meine Hand seinen Arm hinab gleiten und umfasste seine Hand fest, ehe ich den anderen Arm um seinen Nacken schlang und Noah ganz fest an mich heranzog, so wie er es eben noch bei mir getan hatte. Seine Atmung ging unregelmäßig. Die Sicherheit, die mir Noah gestern und all die letzten Tage vermittelt hatte, verblasste. Natürlich hatte er mich schützen können, jedoch nicht, ohne jedes einzige Mal ein kleines Stück von sich selbst aufzugeben. So wie wahrscheinlich sein gesamtes Leben schon.

Minutenlang standen wir so da, fest umschlungen, sodass keiner hätte sagen können, wo Noah anfing und ich aufhörte.

»Es ist okay.«, sagte ich leise und meine Hände rutschten auf beiden Seiten zu seinen Armen. Jetzt hatten wir genügend Abstand, um einander anzusehen, waren einander jedoch noch so nahe, dass wir den Atem des jeweils anderen gut hören konnten. »Das ist alles vollkommen okay. Du hast Menschen verloren. Das macht etwas mit einem.«

Noah schwieg.

»Du darfst dich nicht zurückziehen und kalt werden. Es macht dich einsam.« Ich legte die Hände auf seinen Brustkorb. »Oder dir endlos Sorgen machen, dass dich die Menschen verlassen, weil dich schon so viele verlassen haben. Dadurch verlierst du Energie, und irgendwann erscheint dir dein Leben farblos und trist. Du kannst nicht immer nur geben, ohne dich dabei selbst zu verlieren.«

»Was kann ich sonst tun?«, entgegnete er rau und hilflos.

Ich ließ meine Hände wieder bis hinauf in seinen Nacken wandern. »Überlass es mir.«

Unsere Blicke trafen sich.

»Vertrau mir. Ich verlasse dich nicht.«, sagte ich mit Nachdruck.

Er beugte sich ein wenig vor und seine Stirn berührte meine. Unsere Nasen streiften sich, und mein Herz hämmerte wie wild, während er verlangend seine Lippen auf meine presste. Ich versuchte, mir wieder ins Gedächtnis zu rufen, dass man hier höchstwahrscheinlich etwas mehr Professionalität von uns erwartete, aber es gelang mir nicht, mich von Noah zu lösen. Dafür wollte ich diesen Kuss viel zu sehr.

Meine Hände fanden den Weg in seine Haare. Wir gingen einige Schritte zurück, bis mein Rücken gegen die Wand prallte. Schlagartig registrierten wir, wo wir uns befanden, und der magische Moment zwischen uns war mit Ende des Kusses verschwunden. Ich straffte meine Schultern und atmete tief durch. Noah fuhr sich mit den Fingern durch die Haare, um einigermaßen Ordnung in seine zerzauste Frisur zu bringen.

»Geht das so?«, fragte er.

Ich betrachtete seine Haare, die noch immer ziemlich wild aussahen und hob die Hand, um das Chaos auf seinem Kopf, das ich so liebte, zu beseitigen.

»Jetzt.«, sagte ich und lächelte ihn liebevoll an.

Er erwiderte das Lächeln mühsam. »Eigentlich müsste ich dich beschützen, das weißt du, oder?«

»Du hast mich die ganze Zeit beschützt.«

»Das werde ich auch weiterhin tun.«, versprach er.

»Ich weiß.«

»Julie?«

Aufmerksam guckte ich ihn an.

»Ich bin froh, dass du da bist.«, sagte er und brachte mein Herz damit gewaltig ins Stolpern.

»Ich bin auch froh, dass du da bist.«, sagte ich sanft, und ich hätte anhand von Noahs Mimik schwören können, dass es seinem Herzen gerade genau so ging wie meinem.

Nicht ohne dichWo Geschichten leben. Entdecke jetzt