Kapitel 38

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Noahs Lider flatterten und er bewegte seine Hände, als wollte er ertasten, wo er sich befand. Miles stieg aus, umrundete das Auto und öffnete die Hintertür auf Noahs Seite. Behutsam berührte er die Hand seines besten Freundes. Fast in derselben Sekunde schnellte sein Blick zu mir. »Fass mal an.«

Irritiert beugte ich mich vor und fühlte Noahs Haut. Sie war deutlich erhitzt.

»Fieber?«, fragte ich intuitiv.

Miles legte Noah die flache Hand auf die Stirn. »Fieber durch das Sedativum?«

»Ich kenne mich nicht aus.«, murmelte ich und berührte ebenfalls seine Stirn. »Du etwa?«

»Meine Tante lebt auf einem Bauernhof. Ich dachte vorhin schon, dass sie ihm eventuell ein Sedativum gespritzt haben. Das injiziert der Tierarzt, bevor er beispielsweise die Narkose legt. Es ist nicht giftig und wirkt wie ein starkes Beruhigungsmittel.«, sagte Miles.

Ich hielt Noahs Hand auf meiner Seite fest. Er erwiderte die Berührung schwach. Verzweifelt schaute ich zu Miles auf. »Gehört Fieber denn zu den Nebenwirkungen?«

»Nicht, das ich wüsste.« Er schüttelte den Kopf. »Das ist ja das Merkwürdige.«

»Verdammt.«, stieß ich hervor. »So viel Zeit im Krankenhaus verbracht und ich habe mir nichts gemerkt.«

Miles erstarrte, und mir wurde bewusst, dass ich ihm nicht eine solche Information preisgeben und ihn damit im Regen stehenlassen durfte.

»Meine Mum hatte Krebs.«, erklärte ich flüchtig und begutachtete Noahs Körper. Er war so blass, seine Haut kam mir fast ein wenig gräulich vor. In Gedanken ging ich alles durch, was wir gemeinsam erlebt hatten. Ich erinnerte mich an seinen beschleunigten Herzschlag, an den Moment, in dem sie ihn mit dem vermeintliche Sedativum ausgeknockt hatten und an den Beginn unserer Flucht.

»Sieh dir seinen Arm an! Als wir noch zu zweit waren, hatten wir einen Unfall. Noah hat sich am Handgelenk geschnitten. Ich habe die Wunde zwar desinfiziert, aber vielleicht liegt es daran.« Ich löste meine Hand von Noahs und machte mich an seinem Pulloverärmel zu schaffen. Der Stoff war sauber, weswegen ich sofort vermutete, dass die Wunde auf Miles Seite gewesen war.

Fast zeitgleich legten wir Noahs Handgelenke frei. Im Dämmerzustand murmelte Noah irgendetwas unverständliches. Miles fuhr behutsam über den Verband, den ich Noah im Wald angelegt hatte. Wieso hatte ich nur vergessen, die Wunde noch einmal zu kontrollieren?

Vorsichtig entfernte Miles den Verband, der schon längst nicht mehr steril weiß war. Sowohl Blut als auch Erde befanden sich in den Fasern der ersten Schicht. Darunter erkannten wir hauptsächlich Blutspuren und vom Wundwasser verklebte Stellen, jedoch nichts lebensgefährliches. Fleißig wickelte Miles weiter den Verband ab. Nach einer Minute blickten wir in eine von Schorf verkrustete Wunde, die nahezu perfekt heilte. Miles bewegte Noahs Arm ein wenig und tastete seine Haut bis zum Anschlag des hochgekrempelten Pullovers ab. Niedergeschlagen ließ er Noahs Hand wieder auf den weichen Sitz sinken.

»Die Wunde ist es jedenfalls nicht.« Miles öffnete die Tür und ging zum Kofferraum. Kurz darauf kam er mit einem Verbandskasten zurück. »Würdest du nochmal die Stelle an seinem Arm versorgen?«

Ich nickte tapfer, doch die Besorgnis blieb bestehen. Auch Miles war unruhig, während wir die Plätze tauschten, damit ich mich erneut um Noahs Wunde kümmern konnte.

Mit langsamen Bewegungen desinfizierte ich die schorfige Stelle, die einmal ein großer, klaffender Schnitt in Noahs Haut gewesen war. Unterdessen konnte ich mich kaum darauf konzentrieren, was ich als nächstes tun musste. Vor meinem geistigen Auge spielte sich die Szene ab, als Noah versucht hatte, meine Fingerabdrücke zu beseitigen. Ich ließ sie immer wieder Revue passieren, bis ich fast durchdrehte. Ich erinnerte mich an Noahs und mein Wiedersehen und das Kennenlernen mit Miles und Jake. Es war, als wäre Noahs Berührung, seine Umarmung an jenem Tag, in meine Haut eingebrannt. Ich konnte noch immer seine Erleichterung spüren, seine Zuneigung fühlen und wie schnell sein Herz in seiner Brust geschlagen hatte.

Gedankenversunken betrachtete ich Noah. Seine braunen Haare hingen ihm wirr in die Stirn. Beinahe andächtig fuhr ich mit der Hand seine Wange hinauf, um die welligen Haarsträhnen zur Seite zu streichen. Feine Schweißperlen benetzten meine Finger. Augenblicklich legte ich die Hand an seine Schläfen. Fieber. Schüttelfrost. Das war nicht normal.

Entschlossen riss ich die Verpackung eines neuen Verbands auf. Vorsichtig legte ich eine Kompresse auf die verletzte Haut und begann, den Verband drumherum zu wickeln. Anschließend zog ich den Pulloverärmel wieder herunter und guckte zu Miles, der wie auf glühenden Kohlen dasaß und mich beobachtete.

»Wie wäre es mit einer Decke anstelle des Pullovers?«, schlug ich ratlos vor.

Miles stimmte zu. Etwas zu tun war immerhin besser als abzuwarten. Wir konnten schlichtweg nicht einschätzen, was vor sich ging. Es wäre das Klügste, jemanden um Hilfe zu bitten, der mehr Ahnung hatte als wir.

Gemeinsam hoben wir erst Noahs linken Arm an, dann den rechten. Parallel versuchte jeweils einer von uns beiden, Noah den Pullover auszuziehen. Es stellte sich als schwierig heraus, dies zu tun, ohne dass Noah auch nur ein wenig mithalf. Er war wie eine ungelenke Puppe und wir hatten mit jeder Bewegung Angst, ihm wehzutun.

Der Stoff des Pullovers und der des T-Shirts hingen aufgrund der angerauten Oberfläche aneinander, sodass Miles das T-Shirt wieder herunterzog und ich den Pullover zu einer Kopfstütze zusammenrollte. Sobald wir wieder eine Dusche und frische Kleidung haben würden, würde ich drei Kreuze machen.

»Julie«, sagte Miles tonlos.

Er wiederholte sich, diesmal lauter und mit vor Anspannung bebender Stimme. Sofort folgte ich seinem Blick, der auf Noahs Hüfte fixiert war. Knapp über der Jeans zog sich ein roter Streifen über Noahs farblose Haut. Alarmiert schob Miles das T-Shirt hoch und legte Noahs Brust frei, doch einen weiteren roten Streifen oder Verletzungen konnten wir dort nicht ausmachen. Mit zitternden Händen nahm sich Miles das erste Hosenbein vor. Als hätte er es geahnt, befand sich eine weder sonderlich große, noch beängstigende Wunde an Noahs Schienbein. Ein roter Fleck hatte sich um die Schramme gebildet. Zwei Streifen zogen sich auf seiner Haut hinauf, als suchten sie sich ihren Weg in Richtung seines Herzens.

Mein Magen verkrampfte sich. Ein höllisches Stechen in meiner linken Brust ließ mich betäubt fühlen.

Miles fuhr sich über das Gesicht.

Hinter uns erklang das bekannte Knirschen des Bodens unter Schuhsohlen, und gerade, als wir uns umdrehen wollten, guckte Jake auch schon durch die offen stehende Autotür über Miles Schulter hinweg ins Innere des Wagens.

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