Kapitel 48

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Beinahe lautlos fiel die Tür hinter Special Agent Roberts ins Schloss. Kurz darauf traten Noah und ich auseinander.

»Guten Morgen.«, sagte Agent Roberts und deutete auf die beiden Stühle auf unserer Seite des großen Tisches. Noah und ich setzten uns.

Agent Roberts nahm gegenüber Platz. Er legte die Hände auf den Tisch und guckte zuerst Noah, dann mich abwartend an. »Haben Sie Fragen zu meinem Angebot von gestern?«

Ich wandte mich Noah zu.

»Nein.«, sagte er.

»Haben Sie eine Entscheidung getroffen?«, fragte Agent Roberts.

»Ja.«, antwortete ich mit Seitenblick zu Noah. »Wir nehmen das Angebot an.«

Erleichtert atmete Agent Roberts auf. Es wirkte beinahe so, als hätte er bereits mit einer Absage gerechnet.

»Wann können wir unsere Freunde sehen?«, wollte Noah wissen.

»Die müssen schließlich auch einwilligen.«, fügte ich hinzu.

Fragend schaute uns Agent Roberts einen nach dem anderen an.

»Die beiden, die mit uns hergebracht wurden. Jake Havering und Miles Chaplin.«, erklärte Noah ungeduldig. Ich hatte ein ganz dummes Gefühl und mein Magen schmerzte.

Agent Roberts nickte verständnisvoll. »Es tut mir leid, aber das Angebot gilt nur für Sie zwei.«

Mein Blick schoss zu Noah, denn meine Vermutung hatte sich bestätigt. Gleich würde er das Angebot wegen Miles und Jake ausschlagen, was uns geradewegs zurück in die Zelle katapultierte. Niemals hätte ich einen meiner Freunde zurückgelassen, aber in diesem Fall fühlte ich mich dermaßen in die Enge getrieben, dass ich keine Wahl zu haben schien. Alles, an was ich denken konnte, waren mein Dad, meine Mum und Conor. Ich vermisste sie so sehr.

»Miles und Jake würden wollen, dass du hilfst, Bruce Edwards hinter Gitter zu bringen.«, sagte ich gedämpft. »Das war immer das Ziel. Nur deshalb haben wir unsere Leben riskiert.«

Noah drehte sich zu mir. Er schüttelte entschlossen den Kopf. »Nein, Julie. Das sind meine besten Freunde.«

»Du hilfst ihnen nicht, wenn du in der Zelle verrottest!«, entfuhr es mir lauter als angemessen war. Verzweifelt guckte ich Noah an und senkte die Stimme. »Halten wir uns an den Plan, okay?«

Vor meinem inneren Auge sah ich Conor nach dem Football nach Hause kommen. Mein Albtraum wiederholte sich, das Stechen in meiner Magengrube wurde unerträglich. Und dann stellte ich mir vor, wie Bruce Edwards meine Familie bedrohte, um Noah und mich dazu zu zwingen, uns zu ergeben. Plötzlich hatte ich mehr Angst als jemals zuvor.

Agent Roberts Blick wanderte von Noah zu mir.

»Ihr habt euch auch nicht an den Plan gehalten.«, sagte Noah, und er klang kein bisschen vorwurfsvoll. Es ärgerte mich, dass er so ruhig blieb, und noch viel mehr ärgerte es mich, dass er recht hatte. Miles, Jake und ich hatten uns ebenfalls nicht an den genauen Plan gehalten. Doch ein Argument hatte ich noch - und das war unschlagbar, weil es einfach die Wahrheit war.

»Ohne dich gäbe es weder uns als Gruppe, noch einen Plan oder sonst was. Darum haben wir das Antibiotikum besorgt. Wir hätten dich nicht sterben lassen.«, sagte ich diplomatisch, während es sich in mir drinnen anfühlte, als drehte Noah eigenständig das Messer, von dem ich das Gefühl hatte, es würde tief in meinem Magen stecken. Ich verstand nun, was er damals bei Jake und Miles am Rande des Sees gemeint hatte. Jemanden zu lieben konnte sich tatsächlich wie eine einzige Schwachstelle anfühlen. Noahs Schmerz folterte mich. Die Art und Weise, wie er mit seinem Leben umging, machte mich wütend und quälte mich. Nur ein Wort über diesen Jungen, und man erkannte meine Verletzlichkeit. Würde jemand damit drohen, ihm etwas anzutun, würde ich den Verstand verlieren. Würde jemand Noah etwas antun, wäre ich zu allem fähig. Wenn ich es recht betrachtete, war ich in jeder Hinsicht verloren.

»Was meinten Sie mit Antibiotikum?«, mischte sich Agent Roberts ein.

»Der Diebstahl in der Apotheke.«, erklärte ich kleinlaut. »Wir haben vermutet, dass Noah eine Blutvergiftung hat.«

»Wie bitte? Das sagen Sie erst jetzt?« Agent Roberts Pupillen weiteten sich. Alarmiert sah er Noah an. »Sie brauchen einen Arzt. Nehmen Sie mein Angebot an. Ich garantiere Ihnen die beste medizinische Versorgung, eine Unterkunft, alles, was Sie benötigen.«

Die Ernsthaftigkeit in Agent Roberts Tonfall zeigte mir, wie sehr er auf Noah angewiesen war.

»Julie hat gestern noch mit dem Wärter gesprochen. Es war eine Blutvergiftung. Man hat mir die Medikamente auf der Krankenstation gegeben.«, entgegnete Noah distanziert und biss sich auf die Lippe. Danach warf er mir einen kurzen, jedoch sehr ausdrucksstarken Blick zu. »Entschuldige, Julie.«

Noah stützte sich am Tisch ab und stand auf. Bevor er uns den Rücken zukehrte, hielt er noch ein letztes Mal inne. »Mit Jake und Miles oder gar nicht, Agent. Sie haben die Wahl.«

Ich ließ das Gesicht in meine Hände sinken und atmete tief durch, während Noahs Schritte immer leiser wurden. Hoffnungslos hob ich den Kopf. Es war, als würde man mich entzwei teilen. Mein Herz schmerzte und ich blickte dem Jungen nach, für den ich alles getan hätte. Jetzt verlor ich nicht nur ihn, sondern durch ihn auch meine Familie. Die Liebe und Zuneigung verwandelte sich in Zorn, bis sich in mir ein unberechenbarer Hass zusammenbraute.

»Er meint es ernst.«, sagte ich zu Agent Roberts und wusste, dass es ausweglos war. »Vor diesem Gespräch waren wir beide einverstanden, und nun wird Bruce Edwards nicht nur jene unschuldige Menschen töten, die ihm in den Weg kommen, sondern auch meine Familie.«

Agent Roberts heftete seine Augen auf mich.

»Und Sie wird er auch töten lassen.«, ergänzte ich.

Der FBI Agent zuckte nicht einmal zusammen, als ich diese Worte aussprach. Vermutlich wusste er es bereits.

»Sie verpassen was, indem Sie ihn gehen lassen.«, murmelte ich und wollte aufstehen, um mich zurück in meine Zelle bringen zu lassen.

»Noah!« Agent Roberts sprang auf. Mit einer Hand lockerte er seine dunkelblaue Krawatte, die sich farblich stark von dem hellblauen Hemd abhob. »In Ordnung! Ich bemühe mich, das Beste für Ihre Freunde herauszuholen.«

Noahs Schritte näherten sich wieder. Ich stockte mit geweiteten Pupillen und richtete meinen Blick auf den vermutlich entschiedensten, loyalsten jungen Mann, den ich je kennengelernt hatte. Mutig stellte er sich Special Agent Roberts gegenüber und verschränkte die Arme vor der Brust.

»Ich will, dass Sie Ihr Angebot auf Miles, Jake, Julie und mich beziehen. Wir sind ein Team.«, forderte Noah selbstbewusst.

»Alles klar.«, sagte Agent Roberts. »Haben Sie sonst noch irgendwelche Wünsche, von denen ich besser jetzt erfahren sollte?«

Für einige Sekunden war es so still im Raum, dass wir nur den rauschenden Verkehr draußen wahrnahmen. Noah holte tief Luft. Sein Blick schweifte zu mir. Er verzog die Mundwinkel ein wenig, fast so, als fiele ihm das, was nun kommen sollte, am allerschwersten.

Dann wandte sich Noah wieder Agent Roberts zu. »Falls irgendetwas schief geht, will ich, dass Sie Julie laufen lassen.«

Agent Roberts sah zu mir. In seinen Augen lag etwas unergründliches, bevor er schließlich niedergeschlagen nickte, nachdem er wohl festgestellt hatte, dass ich keine allzu große Gefahr für die Öffentlichkeit darstellte. »Ich veranlasse, dass man Sie und Ihre Freunde von hier wegbringt. Wir sehen uns an einem sicheren Ort, um alles Weitere zu besprechen.«

Noah willigte ein.

Ich nickte zögerlich, während ich die beiden von meinem Stuhl aus anschaute. Agent Roberts musterte uns prüfend. Es dauerte eine Weile, aber dann schien auch er zufrieden mit dem Ergebnis unseres Gesprächs zu sein.

»Bis später.«, sagte er und stoppte kurz vor der Tür noch einmal. »Ich erwarte viel von Ihnen. Ich finde, das sollten Sie wissen.«

Nicht ohne dichWhere stories live. Discover now