Kapitel 10

5K 238 15
                                    

Solange ich denken konnte, hatte ich meine Gedanken nicht zum Schweigen bringen können. Sie saßen tief in mir drin. Verbargen meine größten Ängste, beeinflussten und konfrontierten mich andauernd, sodass ich mir manchmal gar nicht mehr sicher war, wie es sich anfühlte, auf mein Herz zu hören. Umso erstaunter war ich, dass in diesem einen Augenblick alles in meinem Kopf verstummt war. Eine leichte Nervosität hinterließ ihren Schleier auf meinen Armen und rückte bis in meinen Bauch vor, in dem sie sich kribbelnd ausbreitete. Währenddessen lief der Regen aus meinen Haaren hinab über meine Schultern und meinen Rücken hinunter. Aus Gewohnheit blickte ich auf. Mein Unterbewusstsein ging davon aus, dass meine Mom vor mir stehen und mich ins Haus schicken würde, damit ich mich nicht erkältete. Stattdessen stand Noah vor mir. Die triefende Kleidung klebte wie eine zweite Haut an seinem Körper. Seine Haare hingen ihm ins Gesicht, und für einen Moment wirkte er wie verloren in dem strömenden Regen. Doch da war etwas in seinen Augen. Ein Funken, ein Glitzern. Was auch immer es war, es berührte mich zutiefst. Meine gesamte Welt geriet ins Wanken, aber ich hätte nicht genau sagen können, wodurch dies geschah. Eigentlich wusste ich überhaupt nichts. Nur, dass ich fasziniert war. Ich wünschte, er würde mir die ganze Geschichte seiner Flucht erzählen. Ich konnte nur erahnen, wo sie begann.

Ohne ein einziges Wort machte Noah kehrt. Es fühlte sich an, als hätten wir einander bereits fünf Jahre lang angesehen, und gleichzeitig nur zwei Sekunden. Ich war froh, dass er ging, und sehnte mich nach seiner Anwesenheit, als würden zwei Teile meines Herzens mit sich ringen.

Schweigend folgte ich ihm zu unserem Auto. Drinnen war es zumindest etwas wärmer als draußen und somit angenehmer, obwohl sich die Spannungen zwischen uns nicht gerade verbesserten. Noah hatte seinen Kapuzenpullover ausgezogen und hängte ihn zum Trocknen über die Kopfstütze des Fahrersitzes. Dann öffnete er das Fach der Mittelkonsole und schaute sich auf der Rückbank um. Er fand ein Feuerzeug, Taschentücher und Papierservietten. Auch ein Verbandskasten und eine Fleecedecke gehörten zu seiner Ausbeute. Ich machte ihm Platz und wich ihm weitestgehend aus.

»Hier« Noah reichte mir die Decke. »Zieh aus, was zu nass ist und decke dich damit zu.«

Zuerst war ich misstrauisch. Als Noah mir jedoch den Rücken zudrehte, begann ich tatsächlich meine Jeans aufzuknöpfen und mir die Decke umzuwickeln. Nachdem ich meine Jeans auf die Rückbank bugsiert hatte, vergrub ich fröstelnd die Hände in dem wärmenden Fleece. Das würde ich auf keinen Fall bereuen.

»Fertig«, sagte ich. »Nachher will ich mir deine Wunde nochmal ansehen, okay?«

Noah wandte sich mir wieder zu.

»Willst du Ärztin werden?«, erkundigte er sich.

Irritiert runzelte ich die Stirn. »Wie kommst du denn jetzt darauf?«

»Du kümmerst dich.« Er zuckte mit den Achseln. War das ein Kompliment?

»Weißt du was?« Ich sah Noah aufrichtig an. »Eigentlich will ich Jura studieren.«

»Das komplette Gegenteil.«, merkte er an.

»Wieso? Ich kann Menschen doch auch als Anwältin helfen.«

Noah nickte. »Sicher. Du kannst ihnen aber auch die Hölle auf Erden bereiten.«

Noch bevor er seinen Satz ausgesprochen hatte, spürte ich einen explosiven Schmerz in meiner Brust entflammen. Ich hatte mich so auf Jura fixiert, dass es wehtat, so eine ehrliche Meinung zu hören. Bislang war mir nur gut zugesprochen worden; Ein anständiger Job, gut bezahlt, ein tolles Ziel, viele Möglichkeiten für die Zukunft. ... Offenbar hatte niemand, den ich in mein Vorhaben eingeweiht hatte, überhaupt darüber nachgedacht, inwiefern ich Menschen verletzen könnte. Und das Erschreckendste daran war, dass dieser Aspekt nicht einmal mir selbst aufgefallen war. Dabei hatte ich diesen Beruf bewusst gewählt, um meine Familie in jeglicher Hinsicht unterstützen zu können.

Nicht ohne dichWhere stories live. Discover now