Kapitel 63

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Ich war mit einem schlimmen Gedanken eingeschlafen und wachte mit einem schlimmen Gedanken auf. Der heutige Tag könnte unser aller letzter sein. Je nachdem, was Agent Roberts vorschlug, was wir tun könnten, wie sich Noah, Miles, Jake und ich daraufhin verhalten würden und mit welcher Aktion Bruce Edwards darauf reagieren würde. Und es verängstigte mich zunehmend, dass so viele Faktoren über unser Leben entscheiden würden, auf die wir keinen Einfluss nehmen konnten.

Mein Schädel dröhnte und ich zog mir die Decke bis hinauf zu den Wangen. Das Weinen gestern sorgte dafür, dass sich heute jede Faser meines Körpers furchtbar empfindlich und schmerzhaft anfühlte. Das kannte ich noch aus der Zeit, in der ich weinend im Krankenhaus eingeschlafen war, weil ich gedacht hatte, meine Mum würde sterben.

Ich richtete mich auf. Der permanente Druck auf meinen Lidern quälte mich und ich lehnte mit dem Rücken so lange an der Wand, bis ich mir sicher war, ich würde nicht umkippen sobald ich aufstand. Instinktiv wandte ich mich Noahs Betthälfte zu. Die Decke war ordentlich zurückgeschlagen und das Kissen bereits aufgeschüttelt.

Ein Blick zur Tür genügte, um mich zu versichern, dass niemand diesen Moment miterleben würde. Dann tastete ich nach Noahs Kissen und zog es dicht an mich heran. Meine Augen wurden heiß und ich bemühte mich, mich zusammenzureißen. Rasch schob ich das Kissen wieder von mir weg. Ich verhielt mich lächerlich. Was auch immer zwischen uns war, war vorbei.

Barfuß lief ich ins Badezimmer, machte mich fertig und kehrte ins Schlafzimmer zurück, um das Fenster zu öffnen. Die Luft war noch morgendlich kühl. Es erinnerte mich an den Herbst, meine Lieblingsjahreszeit. Ich liebte es, wenn sich die Blätter verfärbten und ich mich in meiner Decke einrollen und Kakao schlürfen konnte. Vielleicht würde es mir bis dahin wieder besser gehen. Auch, wenn ich in diesem Moment noch stark bezweifelte, dass es für mich jemals wieder ein Leben nach Noah geben würde. Die Wunde war wahrscheinlich noch viel zu frisch, um irgendetwas halbwegs objektives von sich geben zu können, und trotzdem war ich mir so verdammt sicher. Denn falls es jemanden gäbe, der Ansichten - oder genauer: die Ansicht meiner Mum und meines Dads - verändern könnte, musste das Noah sein. Er hatte es auch bei mir geschafft, und ich konnte ein sturer Esel sein.

Als ich unten ankam, entdeckte ich Noah in der Küche. Er hielt einen dampfenden Becher in der Hand. Jake und Miles unterhielten sich in der Wohnzimmerecke. Sie verstummten, kaum dass ich die Küche betreten hatte. Mir wurde mulmig. Ich hielt inne und sah Noah vorsichtig an. Er hatte tiefe Schatten unter den Augen. Seine Haut war fahl und die Haare vom Schlafen noch ganz durcheinander. Er schluckte schwer und stürzte mich mit seiner bloßen Anwesenheit bereits in die nächste Krise.

Appetitlos kaute ich schließlich auf einem French Toast herum.

Nach einer Weile klopfte es an der Haustür. Miles öffnete Agent Roberts die Tür und bat ihn herein. Jake stand auf. Noah und ich gesellten uns ebenfalls dazu und begrüßten den Agent höflich.

Nachdem Miles seinen Laptop aufgeklappt und wir alle Platz genommen hatten, begann Jake, den Zeitstrahl zu erklären. Er zählte alle uns bekannten Straftaten auf, ebenso die Morde an Noahs Familienmitgliedern in chronologischer Reihenfolge und wie wir uns auf die Suche nach Bruce Edwards gemacht hatten. Anschließend ergänzte Miles Jake und zeigte Agent Roberts das Foto von Edwin Hernandez. Noah erklärte kurz, er habe den Mann auf dem Foto bereits in seiner Kindheit und als Jugendlicher mehrfach gesehen. Es wäre exakt der Mann, den er hatte ausfindig machen wollen. Und Agent Roberts hörte uns einfach nur zu. Später warf er hin und wieder etwas ein, merkte eine Kleinigkeit an oder stellte interessierte Fragen. Daraufhin überreichten ihm Jake und Miles die Baupläne, beantworteten Fragen und erklärten, wir müssten in den Serverraum, damit wir die uns bekannten Morde mit den Unterlagen abgleichen und beweisen könnten.

»Gut.«, sagte Agent Roberts, nachdem Miles und Jake geendet hatten. »Jetzt ist die Frage, wie wir in den Serverraum kommen.«

»Einbrechen.«, schlug Jake vor.

»Mit einem Durchsuchungsbeschluss.«, meinte Miles.

Noah schwieg. Er war ungewohnt abwesend.

»Problematisch ist, dass die Beweise, die wir suchen, eben genau dort und in diesem Moment unerreichbar sind. Wir haben nichts handfestes, was wir dem Staatsanwalt bereits auf den Tisch legen können, um einen Durchsuchungsbeschluss genehmigt zu bekommen. Ich habe zwar Kontakte ... Aber die bringen uns jetzt noch nicht weiter.«, erklärte Agent Roberts und überlegte einen Moment. »Allerdings könnte sich einer von euch einem Lügendetektor-Test unterziehen. Das könnte uns weiterhelfen.«

»Inwiefern?«, wollte Miles wissen.

Agent Roberts sah uns einen nach dem anderen an. »Wir würden zuallererst den Test machen. Gemeinsam mit den uns bereits vorliegenden Unterlagen, kann ich anschließend ein Affidavit einreichen, um einen Haftbefehl gegen Edwin Hernandez zu erwirken. Ihr brecht derweil ein und holt uns die Daten.«

»Ein Affidavit? Was soll das sein?«, fragte Jake misstrauisch.

»Eine eidesstaatliche Versicherung, das der Sachverhalt der Wahrheit entspricht.«, antwortete Agent Roberts ruhig.

»Okay, und warum erreichen Sie einen Haftbefehl, jedoch keinen Durchsuchungsbeschluss?« Miles verschränkte die Arme vor der Brust. »Wieso sollte es nötig sein, unsere Köpfe hinzuhalten?«

»Während Sie sich in Sicherheit aufhalten, Agent.«, warf Jake ein.

Agent Roberts nickte verständnisvoll. »Ich verstehe Ihre Bedenken. Für einen Durchsuchungsbeschluss brauchen wir erstmal Beweise, die wir noch nicht haben. Und würde ich ein Affidavit einreichen, bevor wir die nötigen Informationen unter Verschluss gebracht haben, müssen wir davon ausgehen, dass uns irgendein Handlanger auffliegen lässt. Man würde die Daten, die wir brauchen, sofort evakuieren und irgendwo hinbringen, wo wir sie nicht mehr erreichen können. Dann stellt man uns als lächerlich dar; Wir hätten keine Beweise und der Haftbefehl wird natürlich auch abgewiesen.«

»Kapiert ihr es nicht? Wir holen uns die Daten, die wir brauchen, bevor Agent Roberts das Affidavit einreicht. In dem Moment, wo der Haftbefehl erlassen wird, sind wir längst draußen mit den restlichen Beweisen. Dann kann nichts und niemand mehr Edwards den Arsch retten.«, sagte Noah gereizt.

Ich stutzte.

Miles schaute seinen besten Freund forschend an.

»Danke fürs Erklären.« Jake verzog den Mund.

Die Stimmung war selten so miserabel gewesen. Ich biss mir auf die Innenseite der Wange und ertappte mich dabei, wie ich an meinen Fingernägeln pulte.

»Alles in Ordnung bei Ihnen?«, fragte Agent Roberts in die Runde. Sein Blick blieb an Noah hängen, der merklich fertig aussah.

Wir hüllten uns allesamt in Schweigen, bis sich Agent Roberts Miene bedrohlich verfinsterte.

»Ja, es ist alles in Ordnung.« Noah fuhr sich durchs Haar. »Fahren wir los?«

Agent Roberts erhob sich von der Couch.

»Nimm die Liste mit!« Jake sprang von seinem Platz auf und drückte Noah einen Zettel in die Hand.

»Was für eine Liste?«, wollte ich wissen.

»Dinge, die wir für den Einbruch brauchen.«, entgegnete Jake. »Wir hatten sie für den Fall der Fälle vorbereitet.«

Entschieden nickte Noah sowohl Jake als auch Agent Roberts zu. Kurz darauf verließen sie das Haus und Miles, Jake und ich blieben alleine zurück, während Noah zum Bürogebäude des FBIs mitfuhr.

Nicht ohne dichWhere stories live. Discover now