Kapitel 62

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Schritte näherten sich der Haustür. Jake und ich schossen auseinander. Ich hielt mich an der Sofalehne fest und richtete die Augen auf den Türknauf, der sich langsam drehte. Kurz darauf steckte Miles den Kopf zur Tür herein. Seine schwarzen Haare fielen ihm wirr in die Stirn.

»Ihr seid noch wach.«, sagte er, doch klang nicht sonderlich überrascht.

Ich spürte, wie sich ein Kloß in meinem Hals bildete.

Noah schob sich an Miles vorbei. Seine braunen Haare lugten unter der Kapuze seiner dunkelblauen Sweatjacke heraus. Ich konnte meinen Blick nicht abwenden, als er Jake für eine Minute ansah und schließlich zur Treppe deutete. »Ich gehe schlafen. Morgen wird ein anstrengender Tag.«

Keiner von uns widersprach ihm.

Ich beobachtete schweigend, wie Noah sich von uns entfernte. Seine Bewegungen wirkten mühsam. Jeder seiner Schritte schmerzte in meiner Brust. Ich wünschte, ich könnte die Zeit zurückdrehen, doch vermutlich wüsste ich dann noch immer nicht, was ich eigentlich wollte. Manchmal konnte man das nur herausfinden, indem man verlor, was einem am meisten bedeutete. Manchmal musste es eben wehtun.

»Ich werde auch schlafen gehen.« Miles hielt sich die Hand vor den Mund, als er gähnte.

Ich schluckte den Kloß in meinem Hals herunter und guckte Miles besorgt an. »Geht es Noah einigermaßen gut?«

Er schaute zur Treppe. Noah war bereits oben, das hörten wir am Wasserrauschen.

»Ich habe gesagt, dass ich dich nicht aufstacheln wollte.«, sagte Miles.

»Und?« Erwartungsvoll sah ich ihn an.

Jake legte den Aktenordner auf den Tisch, damit morgen früh niemand aus Versehen mit den Füßen darüber lief.

»Er hat mich nicht verprügelt.« Miles zuckte mit den Achseln. »Er hat allerdings auch nicht wirklich mit mir geredet.«

»Das heißt?«, bohrte ich weiter. Meine Schultern waren bereits völlig verspannt.

»Wir stehen alle unter Strom, Julie.« Miles stoppte auf dem halben Weg zur Treppe und blickte mich an. »Gib ihm Zeit, werde dir in der Zwischenzeit über deine Ziele und Gefühle klar, und bespreche es anschließend mit ihm.«

Ich nickte.

»Entschuldige, dass ich mich eingemischt habe.«, sagte Miles leise. Seine Augen ruhten noch immer auf mir. Irgendwie sah er plötzlich ziemlich erschöpft aus.

»Alles gut.«, entgegnete ich ebenso leise, und Miles rang sich ein sanftes Lächeln ab, bevor er sich die Treppenstufen hinauf quälte.

In dem Moment fiel der Ordner mit Agent Roberts Unterlagen krachend auf das Parkett. Ich wirbelte herum und sah, wie Jake sich bückte, um die Akte wieder aufzuheben. Danach ging er schnurstracks in die Küche, und ich blieb alleine im Wohnzimmer zurück.

Ganze zwanzig Minuten später ging auch ich nach oben. Ich hatte Noah die Zeit geben wollen, sich bettfertig zu machen, ohne dass ich ihm in irgendeiner Weise dazwischenfunkte. Er brauchte mein Gesicht an diesem Tag nicht noch einmal ertragen zu müssen. Ich war schon froh darüber, dass unser Deal mit dem FBI nicht geplatzt und er nicht weggelaufen war. Andererseits hatte ich Noah trotz Jakes und meines Gesprächs überhaupt nicht so eingeschätzt. Die Hälfte der Menschheit verbarg ihre Gefühle, aber das qualifizierte sie nicht allesamt dazu, gleich in brenzligen Situationen abzuhauen. Außerdem hatte uns Noah während dieser Flucht kein einziges Mal im Stich gelassen. Vielleicht auch meinetwegen. Jake hatte nie den Anschein geweckt, als würde er für mich auch nur einen Finger krümmen und Miles wäre von alleine niemals eine derartige Konfrontation eingegangen.

Oben ging ich ins Badezimmer, wo ich mich direkt einschloss. Beim Zähne putzen überlegte ich, ob ich unten auf der Couch schlafen sollte. Als ich meine Haare bürstete und sie mir in einem simplen Zopf am Hinterkopf flocht, ging ich gedanklich den morgigen Tag durch.

Kurz darauf fiel mir wieder Teresa Pierson ein. Noahs Tante lebte. Möglicherweise hatte sie sich ein neues Leben aufgebaut. Weit weg von all den Lügen und Erpressungen durch korrupte Geschäftsleute. Beneidenswert. Aber wir waren schließlich auch nicht mehr allzu weit von der Freiheit entfernt. Ich vertraute Agent Roberts.

Im Schlafzimmer war das Licht schon aus. Ich hatte das Gefühl, meine Atmung wäre übernatürlich laut. Als ich unter die Decke kroch, bemühte ich mich, so still wie nur irgend möglich zu sein und auf keinen Fall zu nahe bei Noah zu liegen. Mit der Hand tastete ich nach der Bettkante, um nicht herauszufallen. Dann rückte ich noch ein Stück weg.

Ich verkrampfte mich. Unentschlossen krallte ich mich mit den Händen in der Bettdecke fest, ehe ich locker ließ und zu Noah herüber schielte. Wenn ich ganz leise war, konnte ich seiner flachen Atmung lauschen. Sie war viel zu ungleichmäßig, also schlief er noch nicht. Ich wünschte, ich könnte seine Augen sehen, aber er hatte sich mit dem Rücken zu mir hingelegt.

Jetzt starrte ich wieder die Decke an. Je länger ich über Noah nachdachte, desto trauriger wurde ich. Ich versuchte, meine Gefühle beiseite zu wischen, und verfluchte mich dafür, dass es mir vorhin vor den anderen nicht gelungen war. Mein Herz bebte. Es war tatsächlich ein Wunder, dass Noah nicht dadurch aufwachte.

Früher hatte ich mir jeden Abend ausgemalt, wie ich mal einen Menschen so sehr lieben würde, dass es beinahe schmerzte und wie diese Person meine Liebe erwiderte. Wie hatte ich nur darauf kommen können, dieses Gefühl würden bedingungslos schön sein? Nichts war bedingungslos schön. Diese Liebe hatte Kummer mit sich gebracht, der erniedrigend, absolut furchtbar und grässlich war. Schlimmer als all meine damaligen Hassfächer zusammen.

Noah hatte recht gehabt, als er gemeint hatte, die Liebe würde einen verletzlich machen. Zwischenzeitlich hätte ich mich noch davon überzeugen lassen, es könnte mich stärker machen, einen Menschen an meiner Seite zu haben, der mich liebte und den ich liebte. Heute war ich mir sicher, dieses Gefühl machte mich nicht bloß erpressbar und gefühlsduselig, sondern es hinderte mich auch daran, ganz klar abzuwägen, wo meine Prioritäten lagen. Mein Hirn war wie benebelt und ich wollte nicht mal, dass sich dies änderte. Ich war nur noch auf Noah fixiert. Ich sehnte mich nach seiner Nähe, obwohl es nicht sein durfte. Meine Gefühle waren so stark, dass sie mich vereinnahmten und mich dazu zwangen, an nichts anderes mehr zu denken. Und an die Einsamkeit, die mich erfrieren ließ. Mein Herz war in Schnee gehüllt, sämtliche Hoffnung bis in alle Ewigkeit verbannt. Alles erschien mir sinnlos, doch ich konnte mir selbst nicht entfliehen. Vielleicht wäre es besser, sich nie wieder zu verlieben. Nie wieder das Herz zu riskieren.

Gott, ich hörte mich unendlich verbittert an.

Und weil ich mich selbst nicht mehr ertragen konnte, drehte auch ich mich auf die Seite, winkelte die Beine an und zwang mich dazu, endlich die Augen zu schließen.

Nicht ohne dichWhere stories live. Discover now