Kapitel 27

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Miles hatte mir Mut gemacht. Sehr viel Mut sogar, doch ich konnte meinen Herzschlag trotzdem in meinem Kopf hämmern hören als ich auf den schwarzen Chevrolet Equinox zulief.

Jake saß vorne. Seine dunkelblonden Haare waren kürzer als Noahs und mit dem restlichen Gel von gestern sahen sie trotz der Nacht im Auto noch ein wenig stylisch aus.

»Hey«, sagte ich.

Jake würdigte mich keines Blickes. Erst, als ich die Hintertür öffnete, sah er über seine Schulter hinweg zu mir nach hinten. »Noah ist nicht hier.«

»Ich sehe es ...«, murmelte ich und klappte die Autotür wieder zu.

Gereizt hob Jake sein Kinn. Mit böse funkelnden Augen musterte er mich. »Was denkst du, wer du bist?«

Überrumpelt guckte ich Jake an.

Seine Miene war eisern. »Geh zurück zu deiner Familie und mach brav den Abschluss an der Highschool.«

Mein Magen zog sich schmerzhaft zusammen. Unwohl guckte ich mich um. Miles stand abseits und aß etwas, und Noah war noch immer nicht zu sehen. Also wandte ich mich schweigend von Jake ab. Nach einigen Schritten konnte ich noch immer spüren, wie mich seine Augen durchbohrten, aber immerhin konnte er nicht sehen, wie ich mit mir kämpfte, um die Fassung zu bewahren.

Hinter den Sträuchern offenbarte sich mir der See, an dem Miles und ich gesessen hatten. Ich steuerte auf die Felsen zu, und entdeckte Noah. Seine schwarze Kleidung tarnte ihn gut.

»Darf ich mich zu dir setzen?«, fragte ich.

Noah fuhr zusammen. Er zog sich die Kapuze seines Hoodies vom Kopf, während er sich zu mir umdrehte. »Sicher. Was ist los?«

Langsam lief ich zu den Felsen und überquerte diese.

»Du musst mir endlich ein paar Antworten geben.«, meinte ich, als ich mich neben Noah setzte.

»Hat dir Miles nicht bereits alles gesagt?« Noahs Tonfall triefte vor Verachtung. Mein Herz wurde schwer, und das schlechte Gefühl in meinem Magen wurde stärker.

Mit gesenktem Blick betrachtete ich die Spiegelung der Sonne auf dem Wasser. An so einem wunderschönen Ort sollte es verboten sein, sich zu streiten. Es verdarb einem bloß die Stimmung, und gute Laune zu haben, fiel uns momentan sowieso nicht leicht. Jedes Lachen, jedes Wort, jeder Ratschlag könnte unser Letzter sein.

»Miles hat mir gesagt, dass ich dich fragen soll, wenn ich etwas wissen möchte.«, erklärte ich sanft. »Darum bin ich hier.«

Noah blieb stumm, aber ich konnte sehen, dass er nachdachte. Seine Augen waren auf die Steine vor ihm gerichtet und seine Körperhaltung erschien mir mit einem Mal weniger selbstsicher. Es war, als würde Noah in sich zusammenfallen ... Als könnte er seine Fassade nicht länger aufrecht erhalten.

»Meine Mum und mein Dad wurden ermordet und mein Onkel auch.«, sagte Noah plötzlich.

Mir wurde schwindelig bei seinen harten Worten. Ich hatte nicht damit gerechnet, dass Noah bedingungslos ehrlich zu mir sein würde, denn eine Lüge zu erzählen, schien so viel leichter.

»Der erste Plan war, die Mörder meines Onkels in sein ehemaliges Haus zu locken. Ich hätte so viele von ihnen wie irgend möglich erschossen, danach hätten sie mich vermutlich erschossen.«

»Du hast deinen Tod geplant?«, fragte ich heiser.

Noah zuckte mit den Achseln.

»Miles hat gemeint, er würde bei so etwas nicht mitmachen, doch-«

»Er hätte auch nicht mitgemacht.«, unterbrach Noah mich. »Jake und Miles dachten, sie würden bloß mein Fluchtauto fahren. In der Zeit, in der wir im Haus waren, warteten sie schon am Rande eines Waldweges auf mich, aber ich konnte ja schlecht den Plan durchziehen, weil ... weil du da warst.«

In meinem Hals bildete sich ein Kloß.

»Nachdem du mich beschützt hast, bin ich sofort zum Treffpunkt gerannt. Dann haben Jake und ich die Cops abgefangen und Miles hat dich befreit.«, erklärte Noah.

»Du warst gar nicht auf der Flucht wegen dieses Überfalls im Supermarkt. Niemand außer der Cops hat dich danach verfolgt, und die Cops waren bloß ein kleines Hindernis für dich. Eigentlich wolltest du die Mörder deines Onkels auf dich aufmerksam machen, um sie in das Haus zu locken ...« Verblüfft sah ich Noah von der Seite an.

Er erwiderte meinen Blick.

»Warum der Supermarkt?«, wollte ich wissen.

»Die Supermarktkette hat sich in das Gebäude eingemietet.«

»Und der Besitzer des Gebäudes ist der Mörder deines Onkels.«, schlussfolgerte ich.

Noah nickte.

»Wie hast du herausgefunden, wer der Mörder ist?«

»Ich kannte ihn.«, sagte Noah. »Er hat meinem Dad Aufträge erteilt und später dem Bruder meines Dads, meinem Onkel, ebenso. Ich habe Aufzeichnungen von damals gefunden, die liegen jetzt im Auto bei Jake.«

»Darüber habt ihr vorhin am Auto gesprochen?«, hakte ich nach.

Noah bejahte. »Mein Dad hatte einen Master in Bauingenieurwesen und mein Onkel einen Master in Architektur. Sie arbeiteten viel zusammen.«

Mein Schädel fühlte sich an, als würde er gleich explodieren. Ich holte Luft und schüttelte meinen Kopf. »Noah, es tut mir so unendlich leid.«

Er schwieg.

»Du hast das alles nicht verdient.«, sagte ich mit Nachdruck.

»Wieso nicht?« Schlagartig schaute Noah auf. Die Hilflosigkeit in seinem Gesichtsausdruck erwischte mich heftig. Spätestens jetzt wurde mir bewusst, dass Noah kein Held sein wollte, der dem Tod immer wieder trotzte. Er fühlte sich verantwortlich, schuldig, und er glaubte daran, nichts besseres verdient zu haben.

Ich zögerte für einen Moment. Dann sah ich ihm fest in die Augen. »Weil du ein guter Mensch bist, Noah. Du wirst nicht die Welt retten können, weil Menschen mit ihrer Persönlichkeit individuell sind, unterschiedlich denken und jeden Tag neue Erfahrungen machen, die sie formen, und die du nicht beeinflussen kannst. Aber du veränderst die Menschen in deiner Umgebung. Du veränderst mich.«

»Ich will dich nicht verändern.«, stöhnte Noah und fuhr sich mit den Händen über das Gesicht. »Ich will, dass das Leid aufhört ... dass diese Tyrannen endlich hinter Gitter kommen.«

Vorsichtig streckte ich meine Hand aus. Unschlüssig, wie er darauf reagieren sollte, ließ Noah seine Arme sinken. Er blickte kurz zu mir, als wartete er auf ein weiteres Signal meinerseits.

»Wir kriegen sie.«, flüsterte ich. »Ganz bestimmt.«

Behutsam legte er seine Hand auf meine. Ein angenehmes Kribbeln wärmte meinen Bauch von innen, und ich versuchte, mir das Gefühl unserer Hände aufeinander einzuprägen.

Nicht ohne dichWhere stories live. Discover now