Kapitel 70

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Ein Sanitäter tippte mir auf die Schulter. Behutsam löste ich mich aus der Umarmung und half Noah beim Aufstehen. Seine Haare waren struppig wie die eines Streuners. Es bildeten sich lilafarbene und blaue Striemen an seinem Hals. Das Blut, welches aus seiner Nase gelaufen war trocknete und endete als rotbraune Kruste. Doch das, was mich wirklich beunruhigte, war sein linkes Auge. Eine heftige Schramme befand sich knapp unterhalb der Augenbraue und das Lid war bereits so angeschwollen, dass es mir erschien, als könnte Noah mich kaum noch sehen.

Ich rieb mir den Kopf und stützte mich kurz ab. Da kam Agent Roberts schon auf mich zugelaufen. »Geht es Ihnen gut?«

Der Sanitäter brachte Noah nach draußen.

»Mir ist nur ein wenig schwindelig.«, antwortete ich und guckte mich um. Mein Blick blieb an der leeren Fläche neben der Kasse hängen. Sorge erfasste mich und ich schaute ruckartig zu Agent Roberts auf.

»Sie sind ihm auf den Fersen.«, sagte er.

»Edwin Hernandez ist entwischt?«, entgegnete ich entsetzt.

»Er ist ins Lager gerannt. Vermutlich um die Beweise zu vernichten.« Agent Roberts deutete auf die Sicherheitstür, die ins Lager führte.

Aufgewühlt betrachtete ich die angelehnte Tür. Rauch entwich durch den Spalt, als würde dies der Eingang zur Hölle sein. Das kam dem ganzen sogar ziemlich nahe.

»Ich habe das beste SWAT-Team des FBIs in Chicago geordert.«, versicherte mir Agent Roberts. »Sie kriegen ihn ... Oder gibt es dort einen Ausgang?«

»Nur die Tür, die wir aufgebrochen haben.« Ich blickte mich im großen Eingangsbereich des Supermarktes um. Scherben reflektierten das Sonnenlicht, das von draußen herein fiel. Blut klebte auf den Fliesen. Ich stieß mich von dem Kassenband ab und lief auf die Scheiben zu. Eine einzige Kugel hatte bloß ein Loch hinterlassen, die anderen hatten die restlichen Fensterscheiben zerschmettert. Darauf bedacht, mich nicht zu schneiden, trat ich vor und guckte hinaus zu dem Krankenwagen. Noah wurde von zwei Cops umringt. Ein Sanitäter verarztete ihn. Mir fiel ein Stein vom Herzen.

Plötzlich wurde die Sicherheitstür aufgestoßen. Jake kam heraus. Miles Arm hing schlaff über Jakes Schulter und er stützte seinen Freund mühsam. Sofort entfernte ich mich von den kaputten Scheiben und steuerte schnurstracks auf die beiden Jungs zu.

»Wie geht es euch?«, wollte ich außer Atem wissen.

»Frag in einer Stunde nochmal.« Jake blickte zu Miles, der einen noch immer etwas benommenen Eindruck auf mich machte.

»Was ist mit dem Laptop?«, fragte ich ohne zu zögern.

»Der Laptop?«, wiederholte Jake verwirrt, doch er brauchte keine Sekunde, bis er verstand. »Was hast du vor?«

»Wir bringen Miles erstmal hier raus.« Ich nahm Miles freien Arm und wollte ihn mir gerade um die Schultern legen, um Jake zu helfen, da schüttelte er den Kopf.

»Was denn?«

»Wir brauchen die Daten. Ohne sie platzt der Deal.«, sagte Jake ernst.

Natürlich hatte er recht. Wir würden allesamt im Gefängnis landen.

Unweigerlich überlegte ich, ob die Zeit wohl ausgereicht hatte, die Daten auf die Festplatte zu ziehen. Fast genau so lange hatte Miles mit immer weniger werdendem Sauerstoff verbringen müssen.

Meine Augen hafteten auf dem schwarzhaarigen Jungen, der mich damals aus den Fängen der Cops befreit hatte. Ohne ihn stünde ich jetzt nicht hier.

Mein Hirn ratterte. Ich konnte das nicht. Ich konnte dort nicht einfach reingehen und zwischen dem bewaffneten Edwin Hernandez und einem SWAT-Team des FBI zu dem Laptop vordringen, ohne dass man mich erschoss. Es wäre die reinste Selbstmordmission.

Zu behaupten, ich fürchtete mich in diesem Augenblick meines Lebens, wäre die Untertreibung des Jahrhunderts gewesen. Ich hatte Todesangst. Zurecht. Dort drinnen befanden sich lauter Scharfschützen mit Sturmgewehren und ein Irrer, der mich schon zweimal hatte erschießen wollen.

Trotzdem riss ich mich zusammen. Ich rannte los, stieß die Tür auf und landete irgendwo im restlichen Nebel, den die Rauchbombe ausgelöst hatte. Die Laserstrahlen waren mein geringstes Problem. Leise Schritte ertönten und das Klicken eines Gewehrs war zu hören. Ich bekam kalte Schweißausbrüche. Mein Puls raste und ich hörte meinen Herzschlag in meinem Kopf hämmern. Übelkeit lenkte mich von meinem Ziel ab.

Ich tastete mich mit der flachen Hand an der Wand entlang. Wieder knackte es. Diesmal klang es wie etwas elektronisches. Vielleicht ein Funkgerät.

»Unter euch ist eine Zivilistin. Nicht schießen. Ich wiederhole: Nicht schießen!« Agent Roberts.

Im Eilschritt kam ich am Serverraum an. Jake hatte die Tür mit einem Feuerlöscher eingeschlagen. Dieser lag achtlos in der Ecke. Zerbrochenes Glas lag auf dem Boden zwischen der offen stehenden Metall- und der zerstörten Glastür. Ich stemmte mich einmal gegen die verriegelte Tür. Danach bückte ich mich und stieg durch das Loch in der Tür in den Serverraum ein. Die Luft war erdrückend. Stickig. Sie war drauf und dran, mir meine letzte Kraft zu rauben. Hastig griff ich nach dem Laptop. Der Ladebalken war grün. Er war bei einhundert Prozent angekommen.

Ich atmete aus und mein Blick ging hektisch zwischen den ganzen Kabeln hin und her. Welches Kabel durfte ich ziehen? Einen Moment lang schloss ich meine Augen. Ich dachte an Miles, und wie geschickt er den Laptop an das System in diesem Raum angeschlossen hatte. Die Zeit drängte. Ich öffnete meine Lider und spürte, wie meine Lungen mehr Sauerstoff forderten. Dann sah ich die Festplatte. Ein blaues Licht blinkte an ihr.

Ich zerrte an dem USB-Stecker und packte die Festplatte mit beiden Händen. Danach sank ich zu Boden, den Rücken an etliche Gerätschaften gepresst, die flimmernd und rauchend weiter arbeiteten. Ich klammerte die Finger um die Festplatte, die seltsamerweise zu blinken gestoppt hatte. Gott, hoffentlich hatte ich das Richtige getan. Ich stemmte die freie Hand auf den Fußboden und drückte mich hoch. Dabei fiel mein Blick auf etwas unscheinbares in dem offenen Regal. Drähte in blau, grün und rot führten von einer Uhr zu einem von Klebestreifen zusammengehaltenen Bündel aus mehreren braunen Stangen.

Wie gelähmt starrte ich das Ding an. Ich spähte auf die Uhr. Erschrocken wich ich zurück. Sprengstoff. Das musste Sprengstoff sein! Panik durchfuhr meinen Körper. Ich duckte mich und drängte mich durch das Loch in der Glastür. Schmerzhaft bohrte sich eine Glasscherbe in meine Haut. Ich atmete zischend ein und legte die freie Hand auf die Stelle an meinem Arm. Hitze machte sich breit. Ich spürte, wie sich das Blut in meine Cargojacke sog und dort einen feuchten, dunklen Fleck hinterließ.

Zehn Sekunden.

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