Kapitel 59

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»Noah!« Ich machte einen Satz und schaffte es, ihn an der Hand zurückzuhalten.

»Lass mich!«, stieß er hervor, doch ich ließ nicht los.

Stattdessen nahm ich auch seine andere Hand. »Ich will dir ersparen, dass wir uns wegen einer Fernbeziehung trennen, okay?«

»Und das willst du wirklich?«, fragte er und seine Augen funkelten vor Zorn.

Plötzlich verließ mich die Entschlossenheit. Unsicher wich ich seinem Blick aus.

»Oder hat dir das Miles eingeredet?«, rief Noah.

»Nein!«, sagte ich entsetzt. »Er hat mir überhaupt nichts eingeredet. Ich bin von selbst darauf gekommen.«

Hasserfüllt guckte er mich an. Dann riss er sich los und entzog sich mir nicht bloß körperlich, sondern auch mit all seinen Gefühlen.

Ich hetzte ihm hinterher, die Treppe hinunter. Unten sah ich gerade noch, wie Noah auf Miles zu stürmte. Angst überkam mich und ich dachte schon, Noah würde Miles gleich den Kopf einschlagen, als Jake plötzlich auftauchte.

»Noah, was ist mit dir?«, fragte er verwundert und seine Augen streiften mich. Ich stieg die letzte Treppenstufe herunter, diesmal allerdings deutlich langsamer.

Noah hielt inne, drehte sich zu Jake um. »Sieh mich nicht so an.«

»Was?« Jake hob die Brauen.

»Ich schwör dir, ich-«

»Lass das lieber.«, unterbrach Jake ihn. »Das mit dem schwören.«

Noah starrte seinen besten Freund einige Sekunden an. Egal, was Jake tat, es schien Noah rasend zu machen. Und als ich in sein Gesicht sah, erkannte auch ich das Elend, dass ihn durch mich ereilt hatte. Dann kehrte er uns den Rücken zu. Mit schnellen Schritten steuerte Noah auf die Haustür zu. Ich rannte ihm nach, griff erneut nach seiner Hand, aber er schüttelte mich bereits im Gehen ab.

»Geh nicht!«, rief ich ihm völlig verzweifelt nach.

Da drehte er sich abrupt um und machte einen einzigen Schritt auf mich zu. »Warum nicht?«

Geschockt blickte ich ihm in die geröteten Augen. Er war ungeheuer wütend auf mich. Traurig. Zutiefst verletzt. Vielleicht hasste er mich auch. Das war nicht, was ich erreichen wollte.

»Macht, was ihr wollt«, brüllte Noah. »Aber lasst mich, verdammt nochmal, in Ruhe!«

»Ohne dich platzt der Deal!«, mischte sich Miles ein. »Was können wir noch tun? Sollen wir abhauen?«

»Die kriegen uns sowieso.«, hörte ich Jake missmutig sagen.

Noah reagierte nicht. Seine Augen hafteten auf mir. Ich überlegte fieberhaft, was ich tun könnte. Der Deal wirkte irrelevant. Alles war vollkommen unwichtig geworden, seitdem ich Noah aus meinem Leben gestrichen hatte. Ich hielt inne und hinterfragte meine Gedanken. Alles war ein einziges Durcheinander, ein Desaster, doch was ich mit Sicherheit wusste, war, dass ich bewusst auf meinen Kopf gehört und zwei Menschen damit das Herz gebrochen hatte. Ich hatte Noah nicht aus meinem Leben gestrichen. Nein, ich hatte ihn verloren. Vielleicht war es die richtige Entscheidung gewesen, aber wie konnte etwas richtig sein, was sich so falsch anfühlte?

Hinter mir atmete Jake scharf ein, während Noah sich wegdrehte und nach dem Türknauf griff. Eine Sekunde wartete er, so als müsste er sich vergewissern, nicht bei dem nächsten Schritt umzukippen. Doch er kippte nicht um. Er riss die Haustür auf und knallte sie hinter sich zu.

Ich fuhr zusammen und stürzte im nächsten Moment zum Fenster, wo ich gerade noch sah, wie Noah die Veranda hinunter stürmte. Mein Herz hämmerte wie wild. Ein angenehmes Gefühl breitete sich in meiner Magengegend aus. Erleichterung. Doch warum?

»Julie, was ist los?« Miles Worte kamen nur gedämpft bei mir an.

Tränen flossen über meine Wangen und tropften mein Kinn hinab. Mein Kopf dröhnte.

»Julie!«, rief Miles ungeduldig und ich erwachte schlagartig aus meiner Starre.

»Hey«, sagte Jake ernst. »Lass sie in Ruhe.«

Ich kämpfte gegen die Tränen an. Bestimmt hatte ich verquollene Augen und einen knallroten Kopf. Als ich den beiden Jungs entgegentrat, blickte ich jedenfalls in zwei betroffene Gesichter. Miles wirkte verwirrt, jedoch auf unsere Prioritäten bedacht. Er schien das Ziel nie aus den Augen zu verlieren. Auf diese Eigenschaft war ich fast ein bisschen neidisch.

»Wir müssen Noah finden, bevor Agent Roberts morgen früh auf der Matte steht.«, krächzte ich.

Miles fuhr sich durchs Haar. Geschafft musterte er mich. »Wenn ich Noah jetzt suchen gehe, könnte ich dann ein Problem bekommen?«

»E-Ein Problem?«, stammelte ich irritiert.

»Er war so wütend und durcheinander.« Miles sah mich prüfend an. »Hast du ihm von unserem Gespräch erzählt?«

»Ich hatte keine andere Wahl.«, gab ich zu.

»Welches Gespräch?« Jake verschränkte stur die Arme vor der Brust. »Kann mich mal jemand aufklären?«

Miles ignorierte Jake und ging zur Tür.

»Ich werde Noah suchen.«, verkündete er. Kurz darauf fiel die Haustür hinter ihm ins Schloss.

Meine Handflächen waren feucht von den Tränen, die ich mir von den Wangen gewischt hatte. Ich rieb sie an meiner Jeans trocken und setzte mich auf die Couch. Eigentlich war mir nicht nach Gesellschaft zumute, aber in Noahs und mein Zimmer zurückkehren, wollte ich auch nicht. Ich hatte keine Ahnung, wie ich es ertragen sollte, seinen Duft an der Bettwäsche zu riechen und mich permanent an seinen verletzten Blick zu erinnern.

Nach einer Weile hielt mir Jake ein Glas mit frischem Orangensaft vor die Nase. Ich schaute zu ihm auf und er nickte mir auffordernd zu. Dankbar nahm ich das kühle Glas in die Hände. Jake setzte sich in den Sessel. Sein Blick schweifte über den Zeitstrahl und die perfekt angeordneten Daten, die an der Flip-Chart hingen.

»Damit du es weißt«, begann ich wehmütig. »Es war nicht meine Absicht, alles dermaßen aus der Kontrolle zu bringen.«

Überrascht wandte Jake sich mir zu.

»Alles?«, fragte er kritisch und hob die Brauen.

»Noah.«, entgegnete ich und winkelte die Beine an. »Ich wollte ihm nichts antun. Eigentlich will ich ihn bloß glücklich sehen.«

Jake entgegnete nichts.

»Ich will nicht, dass du mich noch mehr hasst, als sowieso schon.«, schob ich hinterher, in der Hoffnung, er würde mir dafür nicht an die Gurgel gehen.

Doch Jake blieb ruhig. »Ich habe dich nie gehasst.«

»Du bist auf mich losgegangen.«, sagte ich vorwurfsvoll und stellte das Glas auf dem Tisch ab.

»Du hast mich geärgert.« Jake richtete seine Augen wieder auf die Flip-Chart. Es fiel mir schwer, zu erraten, was er wohl gerade dachte. Wenn ich es wissen wollte, müsste ich nachfragen.

Merkwürdig, dass ich Jake nie sonderlich gerne gemocht hatte. Dabei konnte ich immer besser erkennen, dass sich hinter seiner ruppigen Art ein wunderbarer Kern verbarg. Ähnlich wie bei Noah. Es war sein Schutz, den er aufrecht erhielt, um nie wieder solch schreckliche Erfahrungen machen zu müssen, wie jene aus seiner Kindheit und Jugend, die ihn geprägt hatten. Ich erkannte, dass ich Menschen nicht in Schubladen stecken konnte. Sie waren niemals bloß freundlich oder unfreundlich, und Dinge niemals bloß schwarz oder weiß. Auch ich nicht. Wenn ich also Jake die gesamte Zeit über falsch eingeschätzt und ihn völlig missverstanden hatte, ging es Noah und mir vielleicht ähnlich miteinander. Möglicherweise hatten wir uns zu sehr auf den eigenen Schmerz fixiert.

Ich sollte nicht für meine Mum sprechen. Ich hätte Miles Worte nicht zum Anlass nehmen sollen, Noah zurückzuweisen, um meinen Ängsten aus dem Weg gehen zu können. Diese Erleichterung, die ich verspürt hatte, war nicht okay. Denn sie tat jemandem, den ich liebte, verdammt weh.

Nicht ohne dichWhere stories live. Discover now