Kapitel 8

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Im Halbschlaf rollte ich mich auf die andere Seite. Mein Kissen musste im Schlaf verrutscht sein, denn unter dem Kopf spürte ich bereits die Matratze. Während ich die Gegend um mich herum nach meinem Kissen abtastete, schweiften meine Gedanken zur Schule ab. Ich musste meine Lehrer unbedingt um Empfehlungsschreiben für die Universitätsbewerbungen bitten. Die Zeit lief mir davon, so wie mein gesamtes Leben schon. Verdammt. Mit geschlossenen Augen drehte ich mich zurück auf die rechte Seite, aber mein Kissen war einfach nicht zu finden. Auch meine Bettdecke konnte ich nicht ertasten. Mein Brustkorb hob und senkte sich. Es war ein Kampf, die Wut nicht zuzulassen, die sich unwiderruflich in mir zusammenbraute. Erneut tastete ich nach meinem Kissen. Dann stöhnte ich auf.

»Conor!« Trotz aller Bemühungen schimmerte der Zorn so dezent durch meine verschlafene Stimme hindurch wie ein explodierender Sprengsatz. Wie ich es hasste, morgens ohne Kissen oder Decke aufzuwachen. Müde fuhr ich mir über das Gesicht. Hoffentlich würde Conor es nicht mehr wagen, auch nur einen Fuß über meine Türschwelle zu setzen. Sonst würde ich ihn jagen. Ganz weit weg jagen ... bis zur Badezimmertür. So wie jeden zweiten Tag, an dem er mich auf diese besondere Weise weckte.

»Wer ist Conor?«

Ich riss die Augen auf. Reglos blieb ich liegen. Darauf bedacht, möglichst lautlos zu sein, atmete ich ein, doch roch nicht das Waschmittel meiner Mom. Merkwürdigerweise nahm ich den Geruch von feuchter Erde und halb verrottetem Laub wahr. Und Conor war auch nicht da. Ich konnte ihn nicht lachen hören. Da waren nicht die tapsenden Geräusche auf dem Parkett, wenn Conor barfuß zu meiner Zimmertür lief. Anstelle dessen surrte eine Mücke um mein linkes Ohr herum. Nichts war wie normalerweise. Alles fühlte sich falsch und verdreht an. Wo war ich?

Dann, ganz langsam, kamen die Erinnerungen des gestrigen Tages und der Nacht zurück und plötzlich vermisste ich Conor so stark, dass mir Tränen in die Augen traten.

»Geht's dir gut?« Noah klang aufrichtiger als erwartet.

»Sicher.« Ich tat, als müsste ich gähnen und wischte mir dabei unauffällig mit dem Finger über die verklebten Augen.

»Wie lange bist du schon wach?«, fragte ich und setzte mich schwerfällig auf. Noch befanden wir uns in der Morgendämmerung. Die Luft war frisch und der seichte Wind angenehm kühl.

»Seit ein paar Minuten.«, antwortete Noah knapp. »Wer ist Conor?«

Ich versuchte, abzuwägen, ob dies eine Frage war, die ich Noah guten Gewissens beantworten konnte. Würde Conor etwas geschehen, könnte ich mir das niemals verzeihen.

»Mein Bruder.«, sagte ich nach einer kurzen Pause. »Hast du Geschwister?«

Die Schatten unter Noahs Augen waren tief und dunkel wie letzte Nacht. Er war garantiert gegen vier oder fünf Uhr wieder aufgewacht und hatte seitdem Wache gehalten. Etwas anderes konnte ich ihm kaum glauben. Ganz im Gegenteil. Ich sah es in Noahs Blick: Er traute niemandem. Darum rechnete ich auch nicht mehr mit einer Antwort. Selbst dann nicht, als seine Aufmerksamkeit nach einiger Zeit noch immer auf mir lag.

»Nein, keine Geschwister« Er räusperte sich. »Ich habe zwei Freunde, die wie meine Brüder sind.«

Mein Herz machte einen Satz. Ich konnte nichts dagegen tun.

Als Noah mein ehrliches Interesse bemerkte, senkte er den Kopf und fügte leise hinzu: »Sie sind meine Familie, schon seit Ewigkeiten.«

»Wie habt ihr euch kennengelernt?«, wollte ich wissen.

»In Chicago. Wir haben zusammen den Abschluss gemacht.«, antwortete er.

Plötzlich schossen mir tausende Fragen durch den Kopf. »Ich war noch nie in Chicago. Wie ist es da so?«

Nicht ohne dichWhere stories live. Discover now