Kapitel 61

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Ich dachte noch eine Weile über Jakes Worte nach. Ich mochte seinen trockenen Humor. Es machte ihn mir sympathisch. Fast noch mehr als sein beeindruckendes Zitieren von Großbritanniens ehemaligen Premierminister Winston Churchill.

Erschöpft schielte ich zu der kleinen Uhr auf dem Kaminsims. Miles war bereits eine Stunde lang weg. Vor einer halben Stunde war die Dämmerung über uns hereingebrochen. Mittlerweile war es draußen fast dunkel. Vielleicht lag das auch an den vielen Bäumen, die um das Haus herum wuchsen. Sie schirmten uns nicht nur von der Außenwelt ab, sondern sorgten auch dafür, dass weniger Licht ins Haus fiel.

Ungeduldig stand ich auf. Langsam machte ich mir nicht ausschließlich große Sorgen um Noah. Auch, dass Miles nicht mehr auftauchte, beunruhigte mich sehr.

»Willst du etwas essen?«, rief Jake aus der Küche.

Verwirrt wandte ich mich ihm zu. Erst als ich realisierte, was er mich gefragt hatte, horchte ich in mich hinein. Mein Magen war leer. Ich sollte vermutlich Hunger haben. Appetit hatte ich jedoch keinen. Es war, als füllten Noah und die Gedanken um ihn nicht bloß meinen Kopf aus, sondern mein gesamtes Leben. Alles schmerzte; Jeder Knochen, jede Sehne und jeder Muskel. Alles schien nach Noah zu schreien. Ich brauchte ihn. Wollte seine Stimme hören, seine Berührungen auf meiner Haut spüren und seinen Duft riechen. Jede Faser meines Körpers verlangte sehnlichst danach und es zerriss mich nur noch mehr, zu wissen, dass ich dies alles vielleicht nie wieder erleben würde.

Plötzlich klingelte das Handy. Es riss mich schlagartig aus meinen Gedanken.

Jake kam aus der Küche hergelaufen. Als ich mich nicht rührte, nahm er das Handy hastig an sich und akzeptierte den Anruf. Sofort weiteten sich seine braunen Augen.

»Was ist los?«, formte ich mit meinen Lippen.

Anstelle einer Antwort legte Jake das Handy auf den Couchtisch und drückte die Lautsprechertaste.

»Julie hört jetzt mit.«, erklärte er dem Anrufer.

»Was, zur Hölle, machen Miles und Noah außerhalb des Hauses?« Die Stimme von Agent Roberts klang aufgebracht und verzweifelt. »Sie sollten sich bedeckt halten!«

Ich zuckte zusammen, als mir die GPS-Fußfesseln wieder einfielen. Mit schmerzendem Magen lauschte ich dem Rauschen auf der anderen Seite des Anrufs. Schweigend wartete Agent Roberts ab. Ich musste etwas tun.

»Es gab eine Komplikation, aber wir sind dabei, das wieder in Ordnung zu bringen.«, versprach ich.

»Das will ich hoffen, Juliette.«, sagte Agent Roberts eindringlich. »Wir können uns keinerlei Fehler erlauben.«

»Wir wissen das.« Jake atmete geräuschvoll aus.

»Können Sie uns denn sagen, wo sich Miles und Noah gerade aufhalten? Dann holen wir sie sofort her.« Ich war ehrlich gesagt richtig erleichtert darüber, jetzt die Chance zu bekommen, Noah und Miles ohne großes Rätselraten einfach ausfindig machen zu können.

Agent Roberts holte tief Luft. »Sie sind bereits auf dem Weg zu Ihnen. Warum wissen Sie das eigentlich nicht? Sprechen Sie sich nicht ab?«

»Das war eine spontane Sache.«, sagte ich kurz entschlossen und rettete uns damit vermutlich aus dieser gefährlichen Situation.

»Gut.« Agent Roberts machte eine Pause. »Ich verlasse mich auf Sie.«

»Und wir verlassen uns auf Sie.«, entgegnete ich, um daran zu erinnern, dass nicht nur wir eine Aufgabe zu erfüllen hatten. Auch Agent Roberts musste mitspielen.

»Juliette, ich rufe nicht bloß wegen Ihren Freunden an. Ich habe auch Neuigkeiten zu der Person, wegen der Sie mich angerufen hatten.«, meinte Agent Roberts schließlich.

Mir stockte der Atem.

Jake sah mich fragend an.

»Es handelt sich um eine Frau namens Teresa Pierson.«, sagte Agent Roberts. »Sie hatte bereits mehrfach zuvor versucht, Kontakt zum FBI aufzunehmen, wurde allerdings immer wieder abgewiesen. Ich hoffe, dass Sie etwas mit diesen Informationen anfangen können, Juliette. Die Telefonnummer von Mrs. Pierson sende ich Ihnen per SMS.«

»Ja, danke.« Ich beobachtete Jake stillschweigend dabei, wie er sich verabschiedete und auflegte.

Anschließend sah er mich aus unergründlichen Augen an. »Ich kenne diese Frau irgendwoher.«

Ich nickte wissend. Dieser Name war auch mir bekannt. Fieberhaft überlegte ich, ob ich diese Frau vielleicht schon einmal getroffen haben könnte. Vielleicht war sie eine Bekannte meiner Mum oder eine Angestellte im Krankenhaus gewesen.

Mit einem tiefen Seufzen stand ich vom Sofa auf. Jake drehte seinen Kopf. Ich konnte seinen Blick noch auf mir haften spüren, als ich bereits an der Treppe angekommen war. Eigentlich hatte ich noch immer nicht die geringste Lust, mich ohne Noah in unser Zimmer zu setzen. Noah. Mir wurde schwindelig, sobald ich alles Geschehene Revue passieren ließ.

Meine Hand verharrte auf dem Treppengeländer. Ich starrte eine Minute lang die Wand neben mir an. Langsam schweifte mein Blick zu Jake, der sich inzwischen den Ordner auf dem Fußboden vorgenommen hatte. Eilig blätterte er die Seiten um. Also vermutete er dort die Antwort darauf, wer Teresa Pierson war.

»Vielleicht ist sie eine Verbündete oder eine Angestellte ...«, murmelte Jake.

»Eine Angestellte der Supermarktkette?«, warf ich ein.

Jake überschlug eine Seite. »Möglich. Eventuell ist es aber auch Edwin's Frau, eine Verwandte, seine Tochter?«

»Eine erwachsene Tochter, ja ... Aber eine Tochter, die ihren Vater verrät?«, hakte ich nach und ließ das Treppengeländer los.

»Das gibt es, vertrau mir.« Jake hielt einen Moment inne. Mit zittrigen Fingern schlug er den Aktenordner zu und fuhr sich mit der flachen Hand über das Gesicht.

Irritiert sah ich ihn an. Ich öffnete meinen Mund, um ihn zu fragen, ob alles okay war. Dann ließ ich ihn jedoch wortlos wieder zufallen. Plötzlich war ich mir unsicher darüber, ob es gut wäre, nun Fragen zu stellen. Wir hatten gerade einmal unser erstes persönlicheres Gespräch geführt, da wollte ich nicht wenige Minuten später das neu gewonnene Vertrauen wieder zerstören. Falls man es überhaupt so nennen konnte.

Unweigerlich fragte ich mich, ob ich meinen Vater verraten könnte, wenn er etwas illegales tun würde. Könnte ich das übers Herz bringen? Ob Noah wohl jemals darüber nachgedacht hatte, seinen Vater oder später, als er älter war, auch seinen Onkel der Polizei zu melden? Eigentlich stünde es für mich außer Frage. Ich würde auf anderen Wegen probieren, meine Familie zu retten ... Es sei denn, ich hätte keinen Einfluss mehr auf ihr Verhalten, weil sie nicht auf mich hören ... oder zu weit weg sein würden.

»Jake!«, entfuhr es mir lauter als gewollt.

»Was?«, fragte er entnervt und stand vom Fußboden auf.

»Ich weiß, wer die Frau ist!« Ich lachte, während mich eine ungeheure Energie packte. »Es ist Noahs Tante! Die Frau seines Onkels!«

Als Jake das realisierte hellte sich seine Miene auf. Wir sahen einander erleichtert an und meine Sorgen waren für wenige Sekunden vergessen.

Nicht ohne dichWhere stories live. Discover now