Prolog

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Im Rennen schleuderte ich die Metalltür auf. Krachend prallte sie gegen die Wand. Mit einem Satz sprang ich über die Schwelle und stürmte ins Freie. Meine Lungen stachen wie nach einem Marathon. Ich stemmte die Hände in die Hüften und wandte mich triumphierend dem grauen Gebäude zu. Ich gab vor, der Sieger unseres kleinen Kampfes zu sein. Doch, obwohl ich mir größte Mühe gab, war es keine Kunst, die Lüge daran Meilen gegen den Wind zu riechen. Es war mir schon immer schwer gefallen, mich selbst zu täuschen.

Sonnenstrahlen fielen auf das Blechdach. Sie erhitzten die betongrauen Pflastersteine, auf denen ich stand und es entwickelte sich eine brütende Hitze. Der Schweiß rann über meine Finger und das Herz schlug mir bis zum Hals. Es war wie ein Rausch, den ich dringend brauchte. Eine Erinnerung daran, was zutun war. Die Hälfte hatte ich geschafft. Das Ziel lag zum Greifen nah. In diesem Moment war es so still wie schon lange nicht mehr. Kein Vogel zwitscherte. Nicht einmal ein Motorengeräusch drang zu mir durch. Eine friedliche Ruhe beherrschte die Welt und hielt sie in ihren Klauen. Wieder war ich machtlos gegen die Zeit, aber dieses Mal stellte jene nicht die geringste Belastung für mich dar. Alles, das ich wahrnahm, waren die Bilder derjenigen, die ihr Leben riskiert hatten, um meines zu retten.

Kurz schloss ich die Lider. Nur für einen Augenblick, doch lange genug, um zu realisieren, welch ein Glück ich hatte, solche Freunde zu haben. Oder überhaupt zu atmen. Anderen war das nicht vergönnt. Eine Welle an Schmerz flammte in meinem Herzen auf, sobald ich mir vor Augen führte, all diejenigen, die ich bedingungslos liebte, für immer zu verlieren. Doch es gab kein Zurück mehr. Die Entscheidung war längst gefallen.

Das Ziel fokussierend, ließ ich den Blick schweifen. In der Ferne tauchte ein Glimmen auf. Instinktiv stolperte ich nach hinten. Bemühte mich, einen klaren Gedanken zu fassen. Da zerriss ein ohrenbetäubender Knall die Stille, sprengte ein Loch in das Dach des Gebäudes und ließ meinen Frieden im Rauch verblassen. Trümmer flogen mit solcher Wucht durch die Gegend, dass es ein Wunder war, das sie mich nicht in Fetzen rissen. Wieder knallte es. Ein Bauteil sauste hinab in die Tiefe, wo es zischend begrüßt wurde. Dampf wirbelte auf und ich befürchtete, dass der Sprengstoff verbraucht war. In meinem Hals bildete sich ein Kloß. Hastig steuerte ich auf das verbogene Etwas zu, das einmal die Tür gewesen war. Alles, was ich wahrnahm, war die Tatsache, dass jene hinterlassene Spuren noch immer existierten.

Je näher ich kam, desto kochender wurde die Hitze. Es gab keine Chance, in das Gebäude zu gelangen. Zumindest nicht von dieser Seite aus. Und nicht, ohne bei lebendigem Leib zu verbrennen.

Erneut explodierte es hinter der Fassade aus Stein. Ich fuhr zusammen, kehrte um und sprintete los. Da erfasste mich eine heftige Druckwelle, schleuderte ihr Opfer von sich weg. Dumpf prallte ich auf dem Asphalt auf. Vollkommen reglos und ohne jegliches Gefühl in den Gliedmaßen. Mit weit aufgerissenen Augen, die tränten und brannten, starrte ich in den Himmel. Strahlendes Blau wurde von fadem Grau übermannt. Stumm mischten sich die Farben und ergaben eine neue. Blinzelnd neigte ich mich zur Seite. Was sich dort entwickelte, schien unbegreiflich. Wo zuvor ein Gebäude gestanden hatte, war bloß eine orangerot flackernde Wolke aus Stahlträgern und hinabsegelndem Blech geblieben. Schwarzer Qualm stieg auf, erstickte die aufkommenden Flammen und hüllte mich allmählich in Düsternis.

Inmitten von Schutt und Asche liegend zu sterben, hätte ich nie für möglich gehalten. Taub auf den Ohren wie ein gefallener Soldat und wartend auf den Tod. All die wichtigen Fragen, die mir Angst einjagten, spielten von nun an eine Rolle. Die körperlichen Empfindungen blieben aus. Anstelle dessen suchte mich etwas Stärkeres heim. Die grauenvollen Stunden, in denen ich vorgegeben hatte, jemand anderes zu sein. Jedes gebrochene Herz, das ich verschuldet hatte, lastete auf mir. Schmerz explodierte in meiner Brust, sobald das Leid von Mom und Dad in den Vordergrund rückte. Ich hatte so viele Menschen verletzt und würde niemals die Chance bekommen, dies ungeschehen zu machen.

Die Scham trieb mir Tränen in die Augen. Langsam bahnten sie sich ihren Weg abwärts, rollten von den Wangenknochen bis hinab auf den Boden. Ich hatte nicht einen einzigen Grund, die Fassung zu bewahren. Es gab nichts und niemanden, für den ich mich zusammen zu reißen brauchte.

Schluchzend lag ich da. Vor meinem geistigen Auge zeichnete sich eine Kindheitserinnerung ab. Mom saß auf unserer Veranda und Dad lehnte an einer der Stützen, die das Dach hielten. Conor sprang über die Wiese hinter dem Haus. Ständig ruderte er mit seinen kleinen Händen in der Gegend herum. Die Samen des Löwenzahns wirbelten auf. Blätter von rotem Klatschmohn flogen im Wind davon und die Luft war herrlich frühlingshaft. Wie konnte das Glück so nah und doch so fern liegen?

Der Schmerz breitete sich in meinem Körper aus, als hätte er vor, sich tief zu verwurzeln. Ich schickte einen stummen Gruß, ein Danke, ein tut mir leid, an Conor und diejenigen, die mich selbst an jenem Tag noch liebten, wenn ich ihnen all die Missetaten der letzten Stunden offenbaren würde. Vielleicht waren das nicht viele Menschen, aber es wären zumindest die, denen mein Sterben etwas bedeuten würde.

Also klammerte ich mich an dem Bild von Conor fest, bevor alles grau wurde. Grau mit funkelnden Punkten dazwischen, die wie die Sterne aussahen. Ich wartete auf die unwiderrufliche Dunkelheit. Auf das zerplatzten dieses letzten Traums.

Allmählich dämmerte ich dahin. So sanft, als würde ich in den Schlaf gleiten. Zuerst verblassten die Schmerzen, dann meine Gedanken. Es blieb nichts übrig. Nur die unaufhaltsame Müdigkeit.

Nicht ohne dichWhere stories live. Discover now