Kapitel 4

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»Soll ich sie nehmen?« Seine ruhigen Worte waren wie Balsam für meine Seele. Er bot mir einen Ausweg. Ein Angebot, das ich ihm eigentlich nicht abschlagen sollte. Aber ich konnte mich nicht darauf verlassen. Denn vielleicht würde er mich töten.

»Ganz sicher nicht.« Ich verzog die Augen zu Schlitzen und witterte meine Chance darin, ihn in ein Gespräch zu verwickeln. So könnte ich etwas Zeit gewinnen. Für den Sheriff, der bald eintreffen müsste. Und um zu überleben. Das war das Wichtigste.

Nervös schielte ich zu meinem Kidnapper herüber. Er fummelte weiter am Radio herum, darum bemüht, einen Sender reinzukriegen.

»Wieso wolltest du den Mann im Supermarkt töten?«, fragte ich möglichst unbeteiligt, erwähnte bewusst nicht, was ich noch alles mitgekriegt hatte. Die Gestik des Fremden in der Menge, provokant, als wäre er drauf und dran, sämtlichen Menschen, die ihm in die Quere kämen, die Kehle durchzuschneiden.

»Ich wollte niemanden umbringen.«

»Hast du das nicht?« Ich schluckte trocken. »Ihn getötet, meine ich.«

Fluchend riskierte er einen knappen Blick zu mir. »Ich habe auf seine Schulter gezielt. Er wird es überleben.«

Das kam ungefähr hin. Also war er ein guter Schütze. Zumindest tat er das hier nicht zum ersten Mal. Doch welcher Mörder zielte auf Schultern anstelle von Herzen?

Ich blinzelte. »Was ist mit mir? Wolltest du mir das Leben nehmen?«

Einen Augenblick lang fürchtete ich, zu weit gegangen zu sein. Meine einzige Hoffnung, das er mich nicht tötete, lag darin, dass er es noch kein einziges Mal versucht hatte.

»Es war ganz bestimmt nicht mein Plan, dich mitzunehmen.«, sagte er nach einer Weile. »Hätte ich keinen Schutz von jemand Unschuldigen gebraucht, dann wärst du jetzt nicht hier und ich könnte mich um meinen Scheiß alleine kümmern.«

Plötzlich erklang noch eine weitere Stimme im Auto. Wir fuhren unwillkürlich zusammen. Anscheinend hatte selbst er nicht mehr damit gerechnet, bei einem Sender Erfolg zu haben. Aus den Lautsprechern des Radios sprach eine Nachrichtensprecherin zu uns. »Wir rechnen mit für den Mai ungewöhnlich hohen Temperaturen, die sich im Bereich von ...«

Er drehte weiter an dem Rädchen für die Sendereinstellungen. Ich konnte an nichts anderes mehr denken, als an den Zeitpunkt, wenn ich endlich nach Hause kam.

»Gesucht werden ein Mann und eine junge Frau.«, schallte es aus den Lautsprechern des Radios. »Der Täter ist schwarz gekleidet. Seine Größe liegt bei ungefähr sechs Fuß. Außerdem wurde der Täter von Augenzeugen als sportlich bezeichnet. Er ist in Begleitung einer jungen Frau, die hellblaue Jeans und ein gestreiftes T-Shirt trägt. Sie wurde noch nicht identifiziert. Es ist davon auszugehen, dass es die Polizei mit einem eingespielten Team zu tun hat. Falls Sie die beiden Flüchtigen gesehen haben sollten, melden Sie sich unverzüglich bei—«

Nun schaltete er das Radio ganz aus. Ich starrte die Windschutzscheibe an, unfähig, auch nur irgendetwas zu sagen. Wenn mein Leben wie ein Kartenhaus aufgebaut war. Unten, als festes Fundament meine Eltern und Conor, in der Mitte die Schule und oben meine Träume und Ziele, so stürzte es in diesem Augenblick hoffnungslos und unwiderruflich ein. Der letzte Lichtblick wurde ausgelöscht und das Blatt, das meine Realität war, wendete sich um einhundertachtzig Grad.

»Fuck!« Der Mann neben mir rieb sich die Nasenwurzel. Dann schlug er wutentbrannt mit der flachen Hand gegen das Lenkrad.

Reglos blickte ich hinab auf die Pistole, noch immer nicht dazu in der Lage, zu realisieren, was geschehen war. »Wie kann das sein? Ich gehöre hier nicht her ... Ich müsste schon längst in der Schule sein ...«

Nicht ohne dichWhere stories live. Discover now