Kapitel 23

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Die Dämmerung brach über uns herein. Der Wind wurde stärker, sodass die Blätter der Bäume immer wieder raschelnd die Autoscheiben streiften. Die Tiere der Nacht erwachten langsam aus ihrem Schlaf und im Auto wurde es ungewohnt dunkel. Ein wenig beunruhigt rutschte ich zum Fenster herüber und blickte hinaus auf das Feld. Es war eindeutig Mais, der hier angebaut wurde. Das war mir vorhin schon aufgefallen, und hatte mich schmerzlich an jenes Halloween erinnert, an dem Conor und ich in unseren Kostümen durch ein Maislabyrinth geirrt waren.

Ein spärliches Licht bahnte sich seinen Weg durch die Dämmerung. Ich fixierte den Lichtstrahl, der zunehmend heller wurde. Dann erlosch er urplötzlich, fast wie auf Knopfdruck. Es schien, als würde jemand mit einer Taschenlampe das Gebiet absuchen. Unweigerlich stellte ich mir die Frage, ob die Cops mit einer kleinen Taschenlampe durch das Gestrüpp geistern würden. Nein, die Cops würden sich uns niemals in der Dämmerung mit solch einer Funzel stellen. Also gab es nur noch eine Möglichkeit: Noah. Mein Herzschlag beschleunigte sich. Ich spähte zu Miles. Er hielt sich bedeckt.

Das Licht tauchte noch einmal auf. Dies war das letzte Mal, bevor wir zwei Silhouetten im Gebüsch ausmachen konnten. Mit jedem Schritt, den sie sich uns näherten, erkannten wir mehr. Irgendwann öffnete Miles die Autotür. Er stieg aus und lief den beiden Menschen entgegen. Irritiert kniff ich die Augen zusammen, doch ich erkannte bloß Miles Umrisse, und wie er dem einen um den Hals fiel.

Ich legte die Hand auf den Griff und drückte die Autotür auf. Sofort wurde ich von mehreren Personen in Augenschein genommen. Nervös lehnte ich die Tür an, um laute Geräusche zu vermeiden, und steuerte schließlich auf die Drei zu. Meine Hände begannen vor Aufregung zu schwitzen. Instinktiv rieb ich die Handflächen an meiner Jeans, aber ich hatte völlig vergessen, dass meine Hose allerhöchstens noch als Putzlappen zu gebrauchen war. Von der Mitte meiner Oberschenkel abwärts befanden sich Risse, kleinere und größere Löcher und allerlei Dreck im Jeansstoff.

Drei, vier Schritte vor meinem Ziel hielt ich inne. Die Drei guckten mich noch immer an. Jetzt konnte ich die Gesichter erkennen. Miles war ganz links, in der Mitte befand sich ein junger Mann, der mir fremd war, und Noah stand rechts, direkt neben dem Maisfeld. Seine Mimik veränderte sich. Langsam fiel die Anspannung von Noah ab. Er trat einen Schritt vor. Tränen brannten in meinen Augen. Meine Beine waren schon ganz zittrig, als ich Noah endlich erreichte. Eine Weile wusste ich nicht, wo ich hinsehen, oder ob ich irgendetwas sagen sollte. Hatte sich etwas verändert? Was war zwischenzeitlich bei ihm geschehen?

Dann schlang Noah wie selbstverständlich seine Arme um mich und zog mich dicht an seinen Körper. Ich war vor Überraschung wie gelähmt, doch nach kürzester Zeit fügte sich alles. Ich legte meine Hände auf Noahs Rücken und schmiegte meine Wange an seine Brust. Das Klopfen meines Herzens wurde mit jeder Sekunde stärker, die ich den weichen Stoff seines Pullovers an meiner Nase und meinen Lippen spürte. Ich wünschte, Noah würde vergessen, dass seine Freunde dabei waren, und mich noch stundenlang so in den Armen halten. Langsam nahm ich meine rechte Hand von ihm und wischte mir eine Träne aus dem Augenwinkel. Als Noah das bemerkte, senkte er sein Kinn an meinen Haaransatz, und streichelte behutsam über meinen Rücken. Ich presste die Lider fest zusammen, als könnte die Welt dadurch stehenbleiben.

»Geht es dir gut?«, flüsterte Noah in mein Ohr.

Ich fuhr mir über die Wangen und nickte, bevor wir uns voneinander lösten.

»Julie, das sind meine Freunde, Miles und Jake.« Noah deutete in die jeweilige Richtung seiner Freunde. Ich sah die beiden der Reihe nach an.

»Wir haben uns ja schon kennengelernt.«, sagte Miles und wandte sich anschließend an Noah. »Also der Plan hat gut funktioniert, aber die Cops sind seit allerspätestens einer halben Stunde wieder bei Bewusstsein und werden nun nach und nach die Straßen dicht machen.«

Noah blickte sich um. »Wir können im Auto darüber reden.«

»Oder morgen früh.«, schlug Miles vor. »Ein bisschen Schlaf könnte uns allen guttun.«

Wir waren einverstanden.

Jake drehte sich um. Mit großen Schritten ging er davon. Keine Meile von uns entfernt, hörte ich das Klappen der Autotür. Für wenige Sekunden ging ein Licht im Inneren des Wagens an. Jakes Gesicht wurde hell erleuchtet. Dann drückte er auf einen Schalter und befand sich kurz darauf wieder in absoluter Finsternis.

Noah berührte mich am Arm. Schlagartig sah ich zu ihm hoch.

»Soll ich bei dir bleiben?«, fragte er.

Unschlüssig guckte ich zwischen Miles und Noah hin und her. Ich war mir unsicher darüber, ob es okay wäre, Noah so für mich zu beanspruchen. Immerhin ging es um unsere Leben.

»Ihr wird nichts passieren.«, sagte Miles.

»Julie?« Noahs Blick war durchdringend. Es schien, als wäre ihm wirklich wichtig, dass ich mich in dieser Situation mit Miles wohl fühlte.

»Ich bin einfach nur müde.«, sagte ich.

»Okay.« Noah trat einen Schritt zurück, »Habt ihr noch genügend Wasserflaschen und Essen? Braucht ihr Decken?«

»Wir haben alles.«, erwiderte Miles. Er entfernte sich zwei Schritte von Noah. Ich tat es Miles gleich. Meine Lider waren unendlich schwer.

»Bis morgen« Noah sah mich kurz und fest an. Selbst in der Dunkelheit konnte ich in seinen Augen sehen, dass alles gut war. Er vertraute Miles. Also vertraute ich Miles ebenfalls. Er war mir vorhin schon sympathisch gewesen.

Wir liefen im Eilschritt zurück zum Auto. Ich schaute mich noch ein, zwei Mal nach Noah um, aber er ging schnurstracks zu Jake, der wahrscheinlich schon längst eingenickt war.

Miles holte eine Tasche aus dem Kofferraum. Dann setzten wir uns auf die Rückbank des Wagens. Er verriegelte die Türen, damit keine wilden Tiere zu uns hereinkamen und öffnete den Reißverschluss der Stofftasche.

Draußen war es totenstill. Ich sah aus dem Fenster hinaus. Ein Uhu rief, und irgendwo knackte es im Gebüsch. Ich erschauderte bei den unheimlichen Geräuschen. Auf meinen Armen breitete sich eine Gänsehaut aus.

»Julie«

Ich sah zu Miles herüber. Er hielt mir eine Decke hin. Fröstelnd nahm ich die Decke an, faltete sie auseinander und legte sie mir über die Beine. Der Stoff dieser Decke war nicht so kuschelig weich wie die in Noahs und meinem gestohlenen Wagen zu Anfang, aber dafür schien der Stoff deutlich dicker zu sein. Vermutlich würde es diese Nacht ziemlich kalt werden, da war eine wärmende Decke wohl angebracht.

»Danke«, murmelte ich.

»Willst du etwas essen?« Miles wühlte in der Tasche auf seinem Schoß.

»Nein, jetzt nicht.« Meine Stimme war schon ganz leise.

Er ließ die Tasche in den Fußraum sinken und lehnte sich zurück. Kurz darauf dämmerte ich weg, und gelangte in eine Welt, in der ich durch einen dichten, von wilden Sträuchern bewucherten Wald rannte, und von etlichen Scharfschützen verfolgt wurde, aber doch keinen Schritt von der Stelle kam.

Nicht ohne dichWo Geschichten leben. Entdecke jetzt