Prolog

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Wenn die Bibliothekare der Lehma die Geschehnisse von Tarz in einem Buch festgehalten hätten, so müsste es wohl wie jede andere Geschichte mit einem ersten Satz beginnen.

Dann wäre der Lauf der Ereignisse in den folgenden Jahrhunderten einen ganz anderen Weg gegangen und hätte für so manchen Charakter keine Odyssee fernab der Vorstellungskräfte bedeutet.

Dann hätte die Suche der Auflösung des Fluchs über dem Obsidianland vielleicht weniger Jahre, weniger Tode und weniger Opfer bedeutet.

Dann wäre es höchstwahrscheinlich König Laurin Rabenschwinge gewesen, der die verfeindeten Völker nach all den Jahren wieder zu einen wusste.

Aber wenn die Geschichte von Tarz wie jede andere Erzählung mit einem ersten Satz beginnen würde, dann hätte es dieses Buch nicht gegeben. Denn dieses Buch beginnt nicht mit einem ersten Satz und es hätte auch niemand überlebt, der ihn als Augenzeuge hätte aufschreiben können. Dieses Buch beginnt mit dem letzten Satz. Der letzte, der in Tarz geschrieben wurde.

Der Turm wird fallen.

***

An jenem verhängnisvollen Tag peitschte der Atem der Schöpfer wie ein wildgewordener Fluch über die Küste des Landes hinweg und wirbelte die Wellen des großen Meeres derart hoch in den Sturmhimmel hinauf, dass sich selbst die Wolken über der See nur mehr vor Ehrfurcht bebend aneinanderdrängen konnten. Schatten des regenschwarzen Donnerwetters brausten mit einem solchen Getöse über die Marschen, dass man die Schreie der aufgebrachten Menschen in der Siedlung von Tarz kaum mehr durch den Regen zu hören vermochte. Wie eine Grabesdecke legte sich die düstere Naturgewalt über die Salzwiesen, die Klippen, das Dorf und den Turm am östlichsten Punkt des Kronlands.

Der Turm von Tarz, der sich nicht viel länger gegen die Sturmflut behaupten würde.

Dort stand er noch. Von Wellen umtost. Von schwarzen Wolken umfangen. Die wichtigste Bastion der Magyr – dem Untergang im unheiligen Gewitter geweiht.

Bald würde die Macht aus den Tiefen der See den Stein ganz verschlingen, so wie auch die Düsternis des Himmels über das Hinterland kommen sollte. Es war vorbei, die Schlacht gegen die Schöpfer geschlagen.

Der Turm würde fallen.

Mit Schrecken verfolgte der Hochmagyr von Tarz den Weg der schneidenden Klingen des Windes, die mit einer Gewalt über die reetgedeckten Dächer der Dorfbewohner sensten, der selbst die standhaftesten Bauwerke nichts entgegenzusetzen hatten. Durch das Fenster sah er die Umrisse der umherwirbelnden Bauteile, sah Fahnen, Häuserdekorationen, Körbe und Töpfe – all das, was von den Menschen nicht fest genug am Boden verankert worden war. Und er sah Menschen. Menschen, die orientierungslos gegen die Böen anzukämpfen versuchten. Menschen, die im Sturmgetöse des Meeres wie Ameisen von den Klippen gerissen wurden. Menschen, die mit einem Fingerschnippen vom Antlitz der Welt gefegt wurden, als hätten die Schöpfer unter den Bergen ein erheiterndes Würfelspiel um das Leben der Unglücklichen beschlossen.

Menschen, die er als Hochmagyr beschützen sollte.

Aber da war nichts mehr, das er zu tun vermochte. Nicht gegen die Gewalt derjenigen, an denen er sich versündigt hatte.

Ein Verbrechen an den Schöpfern hatte er begangen. Nun verlangte die uralte Macht ihren Preis.

Der Hochmagyr zwang seinen Blick von den schaurigen Geschehnissen hinter dem Fenster zurück in das Wirtshaus, das dem unheilvollen Donnergrollen gerade so die Stirn bieten konnte. Er fühlte das Beben seiner magyschen Barrikade bei jedem Windstoß. Mit zusammengebissenen Zähnen hielt er den Schutz für die Menschen an seiner Seite aufrecht, obwohl er wusste, dass der geschützte Bereich kaum mehr als eine kurze Stille vor der endgültigen Vernichtung bieten konnte. Wer den schützenden Hort nicht rechtzeitig erreichte, war dem Tode geweiht. Wer in die Mauern des Hauses gelangte, wäre es nur wenig später.

Ein Schwert aus Rabenblut: Der Durst einer SeeleWhere stories live. Discover now