Kapitel 6c

21 2 11
                                    

Der Falke

Seine Flügel waren das Feuer. Verschlingend. Unerbittlich. Brennend und beißend.

Obwohl die höheren Lagen des Himmels einen messerscharf kalten Windstoß durch sein Gefieder peitschen ließen, flammte seine Muskulatur unter den flirrenden Federn wie das Höllenfeuer unter den Bergen. Seine Sehnen ächzten und schmerzten bei jedem weiteren Flügelschlag, während sich die Fegeflammen durch den Verbund seiner Knochen zu fressen schienen. Der Atem der Schöpfer zerrte wie ein hungernder Wolf an seinem Körper, als wollte er ihn noch vor den Augen des Firmaments im Flug zerfetzen.

Der Kampf hatte ihn ausgezehrt.

Seine Magerey hatte ihn ausgezehrt.

So sehr, dass er bei der nächsten Böe um ein Haar wie ein Stein vom Himmel gefallen wäre.

Der Falke musste wahrlich kämpfen, um sich gegen die Strömungen aus dem Hochland zu behaupten. In diesen Höhenlagen wirkten die urtümlichen Kräfte des Landes um so vieles stärker, rauschten, rissen, rasten und tobten, als wollten sie das Gewölbe über den Bergen mit ihrer Kraft auseinanderreißen. Selbst die Wolken waren vor der reißenden Gewalt der Hochlandwinde geflohen und überließen den Vogelkörper der klirrenden Kälte über den Wipfeln, boten keinen Schutz gegen die Temperaturen der alles verschlingenden Dunkelheit zwischen den Sternen. Hätten ihm die blinzelnden Silberaugen in den Weiten des Kosmos nicht vor der Finsternis beschützt, so wäre er zweifelsohne wie ein Blatt im Wind davongetrieben.

Aber die Lichter führten ihn.

Sie vermittelten Orientierung. Geborgenheit. Ein Licht in der Düsternis.

Sie erinnerten ihn an das, was weit fort von dieser Welt war. An etwas, das er selbst tief im Innern beherbergte.

Der Falke wusste, es war nur die Hülle, die schmerzte.

Eine Hülle, die er ausgezehrt hatte. Aber eine, die er bald abstreifen würde.

Nur noch ein wenig. Nur noch ein wenig durchhalten, mahnte er sich.

Und er flog. Flügelschlag um Flügelschlag. Immer weiter über das Land.

Sternenlicht spiegelte sich wie ein Silberfluss auf seinem Gefieder und erhellte den Wald unter seinen Schwingen, schälte die einzelnen Wipfel der Bäume aus der Dunkelheit der Nacht. Das Leuchten des Mondes schenkte seinen Augen ein andersweltliches Flackern, das noch mehr Details aus den bleichgewordenen Umrissen der Bergregion hob. Mit dem Wissen von tausend Sternen und Welten blickte er herab auf die Welt von Irden, um denjenigen zu schützen, der vor einigen Jahren seine Hand und sein Schwert zum Schutz des Falken geschworen hatte. Lysander verteidigte Mo gegen die Schrecken einer so fremden Welt, die er nicht verstand, und Mo verteidigte ihn mit all seiner Kraft gegen diejenigen, die ihm etwas anhaben wollten.

Der Falke hatte ihn gegen die Männer aus dem Süden verteidigt. Ganz gleich, wie sehr sein Gefieder auch schmerzen mochte: Er würde selbst am Ende seiner Kräfte weiterhin nach Gefahren für seinen Herrn Ausschau halten und ein ganz besonderes Augenmerk auf die Frau richten, die ihm sein Glück zu stehlen wagte.

Die beiden Personen im Wald erschienen ihm wie eine wandelnde Zielscheibe.

Sie waren angreifbar.

Sein Herr war angreifbar, weil er versagt hatte.

Als Beschützer. Als Freund. Als der, der einst schwor.

Er hatte Lysander nicht vor der glücksaugenden Berührung dieser Frau beschützt, aber er würde bei all den höheren Mächten seine Seele dafür ins Feuer legen, dass er ihn nicht noch einmal auf solch eine Weise enttäuschen würde. Also kämpfte er mit allen Mitteln gegen die lockenden Gesänge der Schwerkraft und suchte den Wald nach potenziellen Unglücken ab, die seinen Freund und Herrn vielleicht oder vielleicht auch nicht ereilen könnten. Er mochte nun auf den guten Willen der Juwelendiebin angewiesen sein, darauf hoffen müssen, dass sie den Fehler tatsächlich rückgängig machen würde. Aber er würde alles tun und alles sein, damit die beiden Irdlinge das Ziel auch erreichten.

Seine Augen richteten sich auf den Wegabschnitt, der vor ihnen lag. Kaum mehr als eine schmale Schneise zwischen den himmelschwarzen Nadelbäumen. Ein Flaschenhals zwischen den Stämmen, bevor sich das Land ein kleines Stück zu einer Rundung unter größeren Bäumen öffnete.

Und da! Dort unten!

Dort sah er Lichter.

Flackernde Punkte, als würde sich inmitten der Wipfel ein Dorf voller Irdlinge befinden. Nur, dass diese Irdlinge keine Häuser oder Straßen oder sonstige Bauwerke bevölkerten, wie er es von den anderen Reisezielen seines Freundes und Herrn kannte. Auch kein einzelnes Hüttchen, wie er es nach den Erzählungen über eine Menschenhexe erwartet hätte. Nein, diese Irdlinge scharten sich zu einer Menge aus Lichterträgern zusammen und erhellten zerfallendes Steinwerk wie ein Leuchtfeuer in der Nacht.

Irdlinge über Irdlinge! So viele Irdlinge!

Allesamt Irdlinge, die glitzernden Stahl von einem Karren in der Masse verteilten.

Ein Schwert aus Rabenblut: Der Durst einer SeeleDonde viven las historias. Descúbrelo ahora