Kapitel 6b

18 2 16
                                    

Flordelis beschleunigte ihre Schritte auf eine Geschwindigkeit, die der verwurzelte Waldboden zu ihren Füßen in der Dunkelheit gerade noch zuließ. Als wäre sie wahrlich in der Lage vor all den Dingen davonzulaufen, die sich in den vergangenen Stunden seit ihrer Ankunft bei Rabenwalde ereignet hatten.

Es war zu viel.

Zu viel für einen Tag. Zu viel für ihren Verstand.

Zu viel für jemanden, der seine Kraftreserven, seelisch wie physisch, gerade bei einem Blutbad gerade zum Äußersten trieb.

Ihre Füße schlingerten mehr schlecht als recht über die aufgebäumten Wurzelknoten unter den Sohlen und fanden sich nur mühlich einen Weg durch das Gestrüpp, das die Trampelpfade wie ein lebendiges Ungetüm aus Bodenranken überwucherte. Blätterranken schlugen ihr wie Peitschen gegen die nasse Hose und prügelten all das Elend in den Körper, das wie ein Grabdeckel aus Granitstein über ihrem Schädel zusammenbrechen wollte. Ein stechender Schmerz pulsierte durch ihren Verstand, sodass sie ihren Kopf am liebsten gegen den nächstbesten Umriss eines Baumstamms rammen wollte.

Es erschien ihr, als würde jeder Schritt als Donnerschlag in ihren Knochen nachhallen.

Das war ihre Realität. Ihre Wahrheit, die nicht einmal ein Sternenhimmel über den Wipfeln schönzuwaschen vermochte.

Hätte Flordelis Vanyeridis nicht vor langer Zeit ihren Glauben an die Schöpfer verloren, so wäre ihr nun ein Fluch auf die höheren Mächte über die Lippen gekommen. Doch für sie gab es da nur eine fürchterliche Ironie des Lebens, die der Zufall nun einmal so schrieb, wie er sie schrieb. Und diesen Zufall verfluchte sie mit allem, was ihr Fluchvokabular besaß.

Mit zusammengebissenen Zähnen drängte sie den Schmerz in ihren Schläfen an den Rand des Bewusstseins, krallte ihre Finger noch fester in den dicken Stoff ihres Überwurfs, verdrängte die Kälte, verdrängte die Nässe und versuchte, sich ganz auf die nächsten Schritte in der Dunkelheit zu fokussieren. Zum einen wollte sie die spektakuläre Matschlandung ihres Begleiters nicht am eigenen Leibe erfahren oder ihre Zähne unverhofft in einen der Wurzelknoten zu ihren Füßen schlagen – zum anderen dachte sie nicht einmal daran, Marell noch mehr unnötige Anhaltspunkte für seine Mutmaßungen zu liefern.

Denn der Mann holte trotz seiner zitternden Muskeln erstaunlich schnell zu ihr auf.

»Ich würde es bevorzugen, den Weg schweigend zurückzulegen«, knurrte sie, als sie im fahlen Silberlicht der Sterne gerade noch den geöffneten Mund des Söldners erkannte. »Schweigend«, wiederholte sie nachdrücklich, »wenn ich schon an meine Begleitung gebunden bin.«

Sie erwartete, dass Marell den Mund wieder schloss. Womöglich hätte sie längst wissen sollen, dass er nicht viel auf ihre ablehnende Wortwahl gab. Es war die Hoffnung, die bekannterweise zuletzt starb.

Aber sie starb.

Sie starb so sehr, dass es wehtat.

»Schweigend ...«

Lysander Marell wiederholte das Wort mit einem gespielt getroffenen Ausdruck auf seinen Zügen. Zur selben Zeit erwiderte er die Schärfe ihres Blickes mit einem Glitzern in den Augen, das eine Mischung aus den widersprüchlichsten Emotionen zu spiegeln schien. Wo die Kopfgeldjägerin in den meisten Fällen eine sehr genaue Aussage über den Gefühlszustand ihres Gegenübers zu treffen vermochte, scheiterte sie nach allen Regeln der Kunst an der genauen Zusammensetzung seiner Empfindungen. Und das, obwohl der Söldner aus dem Süden noch nicht einmal die bekannte Maske der Zirkone über seine Züge legte.

Flordelis wollte es auf die Dunkelheit schieben ...

Doch es kam ihr vielmehr so vor, als wäre sich der Mann bei seinen eigenen Gefühlen gar nicht so sicher.

Ein Schwert aus Rabenblut: Der Durst einer SeeleWo Geschichten leben. Entdecke jetzt