Kapitel 10c

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Lysander Marell

Seine Augen verfolgten jede Bewegung ihrer Gestalt, die sich als spärlich beleuchteter Schemen vor den entfernten Fackellichtern abzeichnete. Am liebsten hätte er seine Blicke wieder den Steinen an der Gefängnisdecke zugewandt und die Ritzen zwischen den Mauerblöcken gezählt, hätte sich so gern irgendwie selbst dazu überredet, die Juwelendiebin nicht mit einer solchen Intenstiät anzustarren. Flordelis ... Flis tigerte seit einigen Minuten vor dem Abflussgitter des Kerkers umher.

Er war sich sicher, dass sie seine Augen auf ihrer Haut zu spüren vermochte. Etwas, das sie nicht leiden mochte. Das hatte sie ihn in jeder Faser spüren lassen.

Dennoch ... etwas in ihm war nicht mehr in der Lage, den Blick von ihrer Silhouette zu wenden.

Als hättte dieser Teil von ihm schlicht Angst, dass sie sich wieder die Haut von den Fingerknöcheln schaben würde, wenn er nur einmal die Aufmerksamkeit in eine andere Richtung des Kellers lenkte.

Er wusste nicht, welches Gespenst ihrer Vergangenheit in jenen dunklen Mauern zum Leben erwachte und welche Erinnerungen sich in jenen Augenblicken vor ihrem inneren Auge abgespielt haben mochten. Aber er hatte den Schatten des Geists in ihrer Iris aufleuchten sehen, als sie das Blut von ihrem Körper zu kratzen versuchte, hatte etwas Wirres und Aufgewühltes in den schwarzen Tönen ihrer Pupillen erkannt, ohne den Schrecken der Bilder näher benennen zu müssen. Wie ein Sturm hatte der Atem des Phantoms in ihren Seelenmeeren gewütet und so hohe, so unbezwingbare Wellen geschlagen, dass er die meterhohen Wassermassen von seiner Position am Strand zu sehen vermochte.

Sie hätte sich bis auf die Knochen blutig gekratzt.

Wenn er nicht gewesen wäre.

Sie mochte ihn nicht leiden können, mochte seine gut gemeinten Trostversuche von sich stoßen.

Aber wenn seine Anwesenheit genügte, um sie davon abzuhalten, sich selbst zu verstümmeln ...

Auch wenn sie so dachte, wie er glaubte ...

Die ungewollte Nähe zu ihr war allemal besser, als seine Zellengenossin bei einer Selbsthäutung zu beobachten.

Sagte er sich.

Also ließ er die Chrysoberyllfrau seit ihrer Unterhaltung nicht mehr aus den Augen und wäre wahrscheinlich nicht einmal mehr dazu in der Lage, wenn sie ihn mit einem ihrer messerscharfen Blicke bedrohen würde. Aber das tat sie auch nicht. Sie tigerte einfach nur vor dem Gitter umher. Beobachtete die Wachen. Versuchte, einen Blick auf ihre königliche Briefrolle zu erhaschen.

Ihre Schritte vor dem Gitter erinnerten ihn an das Verhalten der Löwen, die er einmal bei einer Schaudarbietung am Hof seiner Fürstin zu sehen bekommen hatte. Wie sie mit nervösen Blicken vor den Metallstäben hin und herwanderten, als wollten sie den nächstbesten Wärter in Reichweite mit ihren Pranken zu Boden drücken, ihre Zähne im Brustkorb eines Mannes versenken. Zur selben Zeit hatte er etwas unglaublich Trauriges in den Augen jener Tiere erkannt, von dem er sich sicher war, es bei genauer Betrachtung auch unter den wirren Blicken der Juwelendiebin feststellen zu können ... Wenn sie ihn denn einen Blick auf ihre Augen erhaschen lassen würde.

Nicht bloße Trauer.

Sondern etwas Tieferes.

Kälteres.

So tief, dass es im gesamten Wortschatz der Lehma keine adäquate Bezeichnung dafür zu geben schien.

Interessanterweise hielt ihn genau diese Gefühlstiefe davon ab, sich in den Zustand zu versetzen, der ihm bei seiner Ausbildung an den Schulen eingeprügelt worden war. Beinahe hätte er seine Gedanken hinter der bleiernen Tür weggesperrt und den Schlüssel zu all den Empfindungen in den Wogen seines inneren Meeres versenkt, wäre zumindest für einen Bruchteil der kommenden Torturen nur eine leere Hülle gewesen. Etwas Leeres ohne Inhalt, das man nicht zu brechen vermochte ... Weil da nichts war. Pures, süßes Nichts, das einen davor bewahrte, zu tun, was Flordelis getan hatte. Aber ausgerechnet der Zustand, der dazu gedacht war, nichts zu fühlen ... war von den Emotionen der Juwelendiebin auseinandergerissen worden.

Ein Schwert aus Rabenblut: Der Durst einer SeeleWhere stories live. Discover now