Kapitel 8c

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Lysander Marell

»Entschuldigung!«

Lysander wäre fast das Herz in die Hose gerutscht, als der Ruf des Bogenschützen viel zu laut durch die Stille des Waldes hallte. Außer den rasselnden Schritten des Rebellentrupps schien sich eine schweigende Kuppel über die Bäume gelegt zu haben, eine bedrückende Form der vollkommenen Geräuschabwesenheit, die ihn an metertiefe Erdmassen über dem Deckel eines Bestattungssarkophags erinnerte; lediglich durchbrochen von den Flügelschlägen des Falken, der sich in den Wipfeln über ihnen niedergelassen hatte.

Ansonsten war es vollkommen still gewesen.

So still, dass ihm das Blut in den Adern gefror.

So verdammt still, dass er sich einbildete, nicht einmal das Kreuchen und Krabbeln der Tiere in den Büschen zu hören.

»Entschuldigung!«

Der Söldner blinzelte hektisch, als sich die Stimme des Schützen erneut in die Nacht erhob. Die Füße der Gestalt pflügten sich nun raschelnd und knacksend durch das Unterholz, als wäre er sich der vorherrschenden Spannung in der Atmosphäre gar nicht bewusst. Lysander war sich sicher, dass jeder ausgebildete Ewige den Geschmack seiner Gefühle längst aus der Luft gelesen hätte. Selbst unter der Maske. Selbst unter dem ausdruckslosen Gesicht, das er sich über Jahre in den Zirkonschulen angeeignet hatte ...

Hätte der Schütze nur deutlicher auf die Schwingungen in der Luft geachtet, so wäre er vermutlich nicht mit solch einem Höllenlärm in seinen Gefühlsbereich geplatzt. Und hätte es sich bei dem Krieger um einen Zirkon gehandelt, dann wäre die aufsteigende Angst in Lysanders Brust sicher zu einem Festmahl geworden. Oft genug war er in seinem Leben Zeuge geworden, wie das Volk der Zirkone seinen Seelendurst stillte.

Sie nährten sich von Angst.

Von all den Gefühlen, die just in diesem Moment bei ihm aufwallten.

Gefühle, die ein Mann mit mehr Erfahrung Schicht um Schicht aus seinen Mauern hervorgezogen hätte.

Von den Seelenschwingungen, die seine Begleiterin Flordelis in die Nachtluft absonderte, wollte er gar nicht erst anfangen.

Die Anspannung der Chrysoberyllfrau flackerte wie ein kosmisches Hintergrundrauschen durch sein Bewusstsein, flirrte in Form von geladenen Wellen durch das Wahrnehmungsfeld seiner Seele. Hektische Schwingungen mischten sich mit Knotenpunkten aus tiefgefühlten Emotionen und luden die Luft mit einem derart präsenten Knistern auf, dass er sich am Rand eines Jahrhundertsturms wiederzufinden glaubte, nur Sekunden vor dem ersten Blitzschlag aus den Wolken entfernt. Wie Hagelkörner prasselten dann die unausgesprochenen Gedanken auf seine Haut, schlugen auf ihn ein, prügelten sich in seinen Körper, als wäre in den Signalen ihrer Seele ein stummer Schmerzensschrei verborgen.

Erinnerungen.

Alte und neue.

Deutlicher, je mehr Zeit verstrich.

Zwar erkannte er, dass sie die Signale mit anderen Gefühlen zu maskieren versuchte ... Aber der gewohnte Ausdruck ihrer Härte schien unter den Lagen des versteinerten Gesichts völlig verdampft zu sein.

Er fragte sich: Was hatte sie wohl gesehen, dass ihre Maske so stark bröckelte? Was hatte sie in Bezug auf die Rebellen erlebt, das sie nicht zu verdrängen vermochte?

Die Gefühlskontrolle, die er im Verlauf des Abends bei ihr registrierte, mochte nicht mit den Techniken aus den Zirkonschulen vergleichbar sein. Dennoch mehr als ausreichend für die meisten Gestalten, denen eine Frau wie sie wahrscheinlich des öfteren begegnete.

Gefühlskälte als Mittel der Wahl ... Nicht die schlechteste Strategie in einer Welt, in der sich die Bewohner mal im Guten und mal im Schlechten von Gefühlen ernährten.

Ein Schwert aus Rabenblut: Der Durst einer SeeleWhere stories live. Discover now