Kapitel 2a

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Die Kopfgeldjägerin

Hätte man Flordelis Vanyeridis noch vor wenigen Sekunden danach gefragt, so hätte sie sich wohl in den belebten Wänden des Wegehauses vergleichsweise sicher in ihrer Haut gefühlt. Höchstwahrscheinlich hätten die meisten Kopfgeldjäger, Auftragsdiebe, Meuchelmörder und Verbrecher in solch royalen Angelegenheiten nicht mit einer öffentlichen Auseinandersetzung gerechnet, ja, hätten sich vermutlich sehr bewusst den Schutz eines Etablissements für eine kurze Verschnaufpause ausgesucht.

Ebenso hatte Flordelis es getan.

Doch nun verflogen all die Gedanken über das Wegehaus, über die Nacht, über den Mann und ihre Chancen wie Blätter im Wind. All die Planungen, die sie vielleicht oder vielleicht auch nicht zu ihrer Sicherheit hätte ausplanen können ...

Fort.

Die Faszination für den Fremden?

Fort. Mitfortgetragen von all den Dingen, die sie vor einer Sekunde noch für unumstößliche Tatsachenlagen gehalten hatte.

Für den Bruchteil eines Wimpernschlages schienen die Gedanken der Kopfgeldjägerin ihre eigene Existenz zu vergessen, flogen fort, überschlugen sich, stürzten sich ins Nichts und ließen eine vollkommene Leere in der Wüste ihres Verstandes zurück, während sie den Anblick des heranschreitenden Söldners auf irgendeine Weise logisch zu erklären versuchte. Als könnte sie sich ihre Lage mit ausreichend Vorstellungskraft schönwünschen. Nur ein Fremder, der ein Pläuschchen mit ihr führen wollte. Ein Reisender, der sie aus Neugier nach dem Ziel ihrer Reise fragen würde. Oder zumindest jemand, der ihr etwas verkaufen wollte.

Dabei wusste ein Teil ihrer Seele doch längst, dass die Konfrontation mit einem höhergestellten Söldner wohl kaum in einem Plausch bei Tee und Gebäck enden würde.

Schöpfer!

Flordelis blinzelte.

Nur einen Wimpernschlag später schlugen all die fortgeflogenen Gedankengänge wie eine sturmgepeitschte Welle über ihr zusammen; sie wirbelten chaotisch umher, verknoteten sich, stolperten, sortierten sich wieder und ...

Die Kopfgeldjägerin ließ ihre Hand blitzgleich unter den Lagen ihres Wollüberwurfs verschwinden, um nach einem der zahlreichen Dolche an ihrem Gürtel zu tasten. Bei aller Liebe zu ihrer Berufung scherte sie sich nicht länger um Heimlichtuereien oder Spiele vor dem Fremden, dachte auch nicht mehr an die Höflichkeit von guten Manieren in einem Wegehaus und erst recht nicht an die Wirtin, die mit einem Arm voller Weinkrüge an einem weit entfernten Punkt in den Besuchermassen verschwunden war. Sollten sie alle doch denken und sehen, was sie wollten. Schließlich würde die Spurenlage einer toten Kopfgeldjägerin bei Tagesanbruch niemanden mehr interessieren.

Schlangengleich schoss sie aus ihrer sitzenden Position hinter dem Tisch in den Stand und schloss noch in derselben Bewegung die Finger um das Griffstück ihrer Waffe, machte sich bereit, die Klinge nur Sekundenbruchteile später im Fleisch des Angreifers zu versenken. Ihre Augen taxierten seine Bewegungen mit der Präzision eines Raubvogels, der seine Beute so kurz vor dem endgültigen Sturzflug auf mehrere Meter Entfernung fixierte. Und hätte der Mann in den nächsten Sekunden auch nur einen Finger in Richtung seines Waffengürtels gekrümmt, hätte er sein Gewicht ein wenig zu sehr zu den Klingen in den Lederscheiden geneigt, so wäre der Schankraum des Wegehauses ganz sicher zu einem Ort des Gemetzels geworden.

Doch im Gegensatz zu Flordelis machte der Fremde keine Anstalten, die Waffe zu zücken. Im Gegenteil. Er ließ überhaupt keine Aggression in seinem Verhalten erkennbar werden.

Ein Schwert aus Rabenblut: Der Durst einer Seeleحيث تعيش القصص. اكتشف الآن