Kapitel 1a

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Einige Jahrhunderte später ...


Die Kopfgeldjägerin

Hätte sich Flordelis Vanyeridis um das Aufzeichnen eines Tagebuchs geschert, so müsste sie an jenem Tag sicher ihren Unmut über die Tatsache vermerken, dass ihr der engere Kontakt zu einer anderen Person ein Leben lang verwehrt bleiben würde. Sicher hätte sie etwas darüber geschrieben, wie leer es sich so manches Mal in ihrer eigenen Haut anfühlte. Wie es war, ein Leben ohne jegliche Berührung durch einen anderen führen zu müssen. Nicht, dass es im Kindesalter eine Sache der Unmöglichkeit gewesen wäre, den Durst ihrer Seele in eine andere Richtung zu lenken. Doch man hatte sich schlichtweg nicht darum gekümmert.

Niemand hatte sich je wirklich geschert.

Weil ihre Mutter ein unbekannter Niemand war.

Vielleicht auch, weil ihr Vater diese Unbekannte in der Ferne zu sehr geliebt hatte. Weil dann nichts mehr für das zurückgelassene Kind übrig blieb.

Eines Tages dann ... Eines Tages war es zu spät gewesen, den gewaltigen Sog in ihrem Inneren zu stoppen. Und so war sie letztlich von den Straßen der Hauptstadt zu dem Leben verurteilt worden, das sie seit nunmehr drei Jahrhunderten von einer Ecke des Landes zur nächsten trieb. Immer auf der Suche. Doch meist ohne Berührung. Nichts, das intimer gewesen wäre.

Im alltäglichen Leben wären die genannten Umstände ein erträgliches Los gewesen – oder zumindest eines, das die Kopfgeldjägerin nach den Jahren der Berührungslosigkeit zu akzeptieren lernte. Aber mit dem Blick auf die eingeölten Körper der Tänzerinnen auf dem Podest des Etablissements und einem zweiten Blick auf die einladenden Schwünge ihrer durchsichtigen Kleider hätte Flordelis doch ihren gesamten Lohn für eine einzige Nacht auf die Waagschale geworfen, wenn sie nicht um die Folgen einer solchen Begegnung mit der nackten Haut der Frauen wüsste. Vielleicht könnte sie sogar für die Dauer einer ebensolchen Nacht die Tatsachenlage vergessen, dass ihr das Konzept der bezahlten Liebe im Grunde nicht sehr behagte. Die einzigen Begegnungen dieser Art lagen bereits drei Jahrhunderte zurück und hatten einen bitteren Nachgeschmack auf jeder Faser ihrer Seele hinterlassen, sodass sie am liebsten auch die Erinnerungen an ihre verzweifelten Tage für eine Nacht vergessen würde. Aber sie vergaß nicht, was in ihr schlummerte. Und sie vergaß nicht, was es für sie bedeutete. Sie würde niemals vergessen und hatte es nie.

»Noch einen Becher«, nuschelte sie der Wirtin des Wegehauses zu, als diese gerade eine neue Runde Schnaps zu den sichtlich erheiterten Männern am Nebentisch trug.

Die Antwort kam in Form eines knappen Nickens. Flordelis zwang sich noch im selben Atemzug, den letzten Schluck Apfelsaft aus dem Tongefäß in ihrer Rechten zu trinken.

Wenn es doch wenigstens Würzwein gewesen wäre ...

Möglicherweise wäre es ihr dann leichter gefallen, ihren Fokus von den Damen auf dem Podium abzulenken. Doch an diesem Abend sollte das einzige Vergnügen der mehr oder weniger dünne Apfelsaft aus einer mehr oder weniger gut verwahrten Karaffe hinter der Theke sein. Vermutlich lagerte das Behältnis seit mehreren Jahrzehnten unter den Spinnweben, die sich wie ein dicker Teppich um die alkoholfreien Vorräte jenes Wegehauses schlangen. Zumal sich die Mehrheit der Reisenden in diesem Etablissement von Würzwein und einem gelegentlichen Schluck Wasser zu ernähren schien.

Wie ein brodelnder Wasserkessel rauschten die angeregten Unterhaltungen der anderen Gäste in den Ohren der Kopfgeldjägerin, dröhnten ihr bis in den letzten Knochen hinein, als wollten sie die alkoholgeschwängerte Atmosphäre noch mit einem Hintergrunddonnern untermalen. Schallendes Gelächter vermengte sich mit den polternden Diskussionen der Männer am Nebentisch. Den Taktschlag gaben die klackernden Böden der Tongefäße auf den Holztischen, deren Jahrzehnte man ächzend in die Geräuschkulisse des Wegehauses mit einstimmen glaubte.

Ein Schwert aus Rabenblut: Der Durst einer SeeleWhere stories live. Discover now