Kapitel 10a

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Flordelis Vanyeridis

Die Kopfgeldjägerin zuckte zusammen, als eine fremde Hand die ihre berührte. Mit einem Mal war da der Griff des Söldners, der ihr Handgelenk an Ort und Stelle fixierte. Mit Bestimmtheit. So fest, dass sie in ihren Bewegungen innehalten musste.

Sie sah ihn an. Sein Gesicht. Der Ausdruck in seinen Augen, so aufgewühlt wie das Meer hinter den Marschen. Nicht kalt, nicht mehr klar und neutral, sondern ...

„Fass mich nicht an!", presste sie schockartig hervor.

Er gehorchte.

Augenblicklich.

Marell ließ ihren Arm los, als hätte ein Blitz in seinen Körper geschlagen. Dabei wäre es doch gleichgültig gewesen, oder nicht? Was hätte die Berührung denn auslösen sollen, das nicht ohnehin schon von ihm geraubt worden war? Weshalb sollte sie ...? Weshalb sollte er ...?

Flordelis schüttelte den Kopf, als sie ihre flache Hand auf ihre Kehle legte. Als könnte sie auf diese Weise den Knoten in ihren Atemwegen lösen, der ihren Hals wie eine Schlinge aus Vergangenem und Zukünftigen zusammenzuziehen begann. Unter ihrer Brust ratterte ihr Herzschlag wie eine Fahne im Sturmwind, polterte und pumpte das Blut in einem rauschenden Strom durch ihre Ohren, bis sie das Trommeln ihres Lebens in der Stille des Kerkers zu hören vermochte. Schauergefühle rauschten in Wellen durch ihre Adersysteme und fluteten ihre Blutbahnen mit Hitze, mit Kälte und allerlei Dingen, die sie nicht recht einzuordnen wusste.

Vor ihr saß Lysander. Nun mit Abstand, aber nah genug, um die Wärme seines Atems in der feuchtkalten Atmosphäre zu spüren.

Er atmete hörbar.

Nicht, weil er selbst außer Atem gewesen wäre ... Vielmehr, als wollte er sie daran erinnern, zu atmen.

Also atmete sie.

Sie war sich nicht sicher, wie die Luft durch den Kloß in ihrer Kehle gelangte. Aber sie sah ihn an und atmete.

Sie hasste ihn.

Sie hasste diesen Mann abgrundtief.

Allein, weil er gesehen hatte, wie es ihr in jenen Mauern erging.

Sie hasste ihn. Aber sie atmete mit ihm.

Sie atmete.

Lysander Marell ließ sich aus seiner verkrampften Position auf die Unterschenkel sinken und begab sich in die kniende Gebetshaltung, während er seine Hände locker auf die Oberschenkel zurücksinken ließ. Seine Augen ließen nicht eine Sekunde von ihren Gesichtszügen ab, gaben ihr keine Gelegenheit, ein weiteres Mal mit den Gedanken an einen anderen Ort als an diesen zu driften. Er hielt sie in der Dunkelheit, aber wenigstens an einer Stelle. Glücklicherweise machte er nicht den Fehler, tatsächlich ein Gebet anzustimmen.

Mit großer Wahrscheinlichkeit hätte Flordelis ihn dann erwürgt.

Er kommentierte auch nichts. Er tröstete nicht. Nicht mehr.

Er saß einfach nur, wo er saß.

„Machst du dir deshalb die Mühe, zur Rabenfeste zu reisen? Weil der König in deinen Augen Potenzial birgt?", fragte er leise. „Oder ist es bloß ein Auftrag, den du für Geld angenommen hast?"

Sie glaubte nicht daran, dass es sich dabei um die Frage handelte, die er fragen wollte. Oder um etwas, das er in jenen Augenblicken sagen wollte. Aber es war das einzige, was sie zu beantworten vermochte. Das einzige, was sie sagen konnte.

Flordelis rutschte mit ihrem Oberkörper ein Stück an der Kerkerwand nach oben und schob sich mit den Händen nach hinten, als könnte sie dadurch das Zittern aus ihren Knochen vertreiben. Statt die Beine mit beiden Armen vor den Knien zu umschlingen und sich wie ein Häufchen Elend auf dem Zellenboden zusammenzukugeln, versuchte sie sich an der aufrechten Haltung, die Lysander eingenommen hatte. Sie verschränkte die Arme vor der Brust.

Zittern ...

Dieses Zittern ...

„Würde ich zur Rabenfeste reisen, wäre es wegen des Geldes", keuchte sie. „Es ist immer das Geld. Und es ist mehr als bloß Geld."

Sei es auch auf eine Weise formuliert, die alles oder nichts bedeuten konnte ... Es waren Worte, die sie fand.

Worte, an die sie sich selbst so oft erinnern musste.

Es ist mehr als bloß Geld.

„Ich verstehe", entgegnete der Söldner.

Ob er wahrlich verstand? Dessen war sie sich nicht sicher.

Wenn sie einer Person im Kronland Verständnis für ihre Formulierung zugetraut hätte, dann wohl jemandem, der im Namen einer Adligen für Geld alles tat. Nur, dass Lysander Marell mit seinen Lehmahänden noch nie in die Verlegenheit geraten war, jemandem versehentlich das Lebensglück aus den Adern zu saugen. Dass weder er noch sonst eine andere Person auf Irden wissen konnten, wie es sich anfühlte, in ihrer Haut zu stecken.

Rastlos zu sein.

Gehasst. Gejagt. Und nun auch noch in den Händen derjenigen, die sie für ihre bloße Existenz hinrichten würden.

„Flis ..."

Seine Stimme drang wie ein Echo der Realität an ihre Ohren, kaum mehr als ein entferntes Rauschen hinter einem Schleier und doch so nah, dass sie sich der Präsenz nicht so einfach zu entziehen vermochte. Ohne den Klang wäre es so leicht gewesen, sich in der Dunkelheit unter dem Tempel zu verlieren. Aber was er in ihren schwächsten Momenten an ihr gesehen haben musste, verwandelte sich in einen Grund, nicht weiter in die tiefsten der Untiefen ihrer Seele hinabzutauchen, ihn nicht noch mehr sehen zu lassen.

Noch mehr Schwäche und Schmerz.

Obwohl ihr Herzschlag den Brustkorb noch immer in einem archaischen Trommeltakt erschütterte, war seine Stimme genug, um die letzten Reste ihres Verstandes aus den Trümmern der Erinnerungen zu ziehen. Sich gegen den Sog aus der Finsternis in ihren Adern zu wehren, zu Atem zu kommen, sich zu konzentrieren, zu sammeln.

„Weshalb meintest du, soll ich den König treffen?", fragte sie manieriert.

Ihr Tonfall ... Er war weit über allem, was in ihrer Lage authentisch gewesen wäre.

Von Marell kam kein Lächeln. Nichts, das ihre Vorlage aufgriff.

„Du hast da ein paar aufschlussreiche Dinge gesagt", entgegnete er stattdessen. „Du hältst den König für einen guten Mann. Gleich wenn dir die Entwicklungen nicht gefallen, scheinst du viel auf ihn zu geben."

„Ich weiß nicht genug über ihn, um so zu empfinden."

Der Söldner stieß einen wortlosen Laut aus, als er sie musterte.

„Für jemanden, der sich außerhalb des gesetzlichen Rahmens bewegt, bist du moralisch sehr interessant."

„Was soll das denn bedeuten?"

Er zuckte die Achseln.

„Ich weiß nicht", behauptete er. „Vielleicht einfach nur, dass deine Gesellschaft anders ist. Ich unterhalte mich nicht oft mit den Zielpersonen meiner Fürstin, doch kann ich wohl sagen, dass mir bisher niemand mit so vielen Kanten untergekommen ist."

„Ziemlich beschissen, dass ich die wohl mit ins Grab nehmen werde."

Er brummte.

„Ja, ziemlich beschissen", wiederholte er.

Ein Schwert aus Rabenblut: Der Durst einer SeeleKde žijí příběhy. Začni objevovat