Kapitel 12c

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Lysander stierte auf einen nahenden Schatten zwischen den Stützbalken, der sich mit eiligen Schritten über die Trümmer der Steinfigurinen kämpfte – der Atem halb stockend in seiner Kehle. Er beobachtete. Gaffte. Mit einer derartigen Überraschung in den Augen, dass Flordelis den Kopf kaum schnell genug zu der Silhouette vor dem Abflussgitter herumzuwerfen vermochte.

Ihr eigener Atem kam auf halbem Weg in ihrer Kehle zum Erliegen, als sich die Gestalt einer wohlbekannten Frau aus dem Schummerlicht des Tempelkellers schälte. Feuer und Flammen und Asche und Rauch verschwanden wie ein schlechter Spuk aus ihrem Wahrnehmungsfeld, als hätte sie nicht eben noch die Dunstschwaden aus dem Kellerzugang steigen sehen. Als gäbe es da keinen stechenden Geschmack auf ihrer Zunge, der ihr den Mageninhalt zurück in den Mund zu treiben drohte. Als würde sich ihre Lunge mit all den Staubpartikeln in der Luft nicht immer noch anfühlen, als würde sie mit der nächsten Hustenattacke zu Steinbröseln zerbröckeln. Sie hatte nur noch Augen für eine besondere Gestalt.

Weil da sie war.

Die Frau mit dem Kupferhaar.

Die Frau, die vor wenigen Minuten noch die beiden Rotkuttenwachmänner vor Angst hatte schlottern lassen, die ihren Gefangenen ihre Freiheit gegen ein gewisses Lösegeld in Aussicht gestellt hatte und versprach, die Familie der Kopfgeldjägerin in den höheren Adelskreisen ausfindig machen zu lassen. Ebendiese Frau stolperte gerade über die zerbrochenen Rabenköpfe in Richtung des Abflussgitters – das Gesicht mit einem Ausdruck der Sorge versehen und gar nicht mehr so eiskalt, wie Flordelis die Augen der roten Dame zuvor noch in Erinnerung glaubte.

Ob sie sich den Kopf bei ihrem Befreiungsversuch wohl doch an den Gittern gestoßen haben mochte? Ob sie in einer anderen Realität bewusstlos vor den Kerkerstäben am Boden lag und die Erscheinung aus der Dämmerung in den Rauchwolken des Feuers bloß zusammenhalluzinierte?

Nein ...

Nein, es fühlte sich viel zu real an.

Der Schmerz an ihrer Schulter und ... das alles ...

In welcher Welt hätte sich ihr Verstand auch ausgerechnet die Gestalt dieser Frau zusammenfantasieren sollen, wie sie sich unter Einsatz ihren eigenen Lebens einen Weg zu den Gefangenen bahnte? In welchem Fiebertraum hätte solch eine weit hergeholte Vorstellung ihren Platz gefunden? Nein, nicht einmal im Sterben hätte sie sich so etwas herbeihalluziniert!

Doch sie wollte ihren Augen nicht trauen, als sie sah, was sie sah.

Die Rotkuttenfrau stürzte über die letzten Meter an das Abflussgitter heran und fiel Marell durch die Lücken zwischen den Gitterstäben in die Arme, zog den Söldner mit Tränen in den Augen an ihren Körper, als handelte es sich bei den beiden um mehr als nur langjährige Freunde. Ihre Finger knautschten den Stoff seiner Kleidung so fest, dass die Staubschicht auf Lysanders Rücken in kleinen Wolken von ihm herunterbröckelte – ein kurzer Augenblick, der Mikroschnitt einer Momentaufnahme erstarrt in einer Situation, in der eigentlich keine Zeit für derartige Gesten bleiben sollte.

Flordelis selbst konnte nichts anderes mehr tun, als mit entgeisterter Miene auf die Schnürsenkel in der einen Hand der Kupferfrau zu blicken, von dem ein Paar lederne Soldatenstiefel in einem skurrilen Szenenbild herunterbaumelten.

Sie verstand nicht.

Sie verstand ganz und gar nicht.

Die Frau, die ihr wahrscheinlich am liebsten selbst die Haut vom Körper gezogen hätte, umarmte Marell mit einem Paar Soldatenstiefel in ihren Händen. Der Söldner erwiderte die befremdliche Geste mit einem solch tiefen Atemzug, dass sie sein Verhalten so gar nicht mehr mit der Konversation vor dem Beben übereinzubringen vermochte. Noch vor einer halben Stunde hätte sie die Gefühlsschwingungen in einem ganz anderen Spektrum eingeordnet, das sicher nichts mit einer langjährigen Freundschaft mit ... dieser Person zu tun haben mochte. Im Gegenteil: In seinen Augen hatten ganz ähnliche Gefühle wie in ihren eigenen Blicken gelegen. Hass und Furcht und vielleicht noch Verwirrung darüber, welch kaltes Feuer aus dem Herzen der Rotkuttenrebellin in die Räumlichkeiten der Tempelanlage geströmt war.

Ein Schwert aus Rabenblut: Der Durst einer SeeleWhere stories live. Discover now