Kapitel 12b

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Schwarzer, matter Nebel senkte sich wie eine Decke auf die blicklosen Augen der Rabenschädel, die nach den Erschütterungen kreuz und quer über den Boden des Tempelkellers verteilt waren. Klammheimlich und leise verschwanden die Köpfe der Tierfigurinen unter einer Pulverschicht aus Steinbröseln und Staub, der zwischen den zusammengestürzten Mauerteilen fast schon an die Asche eines Irdenbrandes erinnern wollte. Keine der Statuen schien mehr in der Nähe der zugehörigen Arme, Flügel oder Köpfe zu liegen und kein Kopf schien sich auch nur ansatzweise zu einem der zerschlagenen Brustkörbe zuordnen zu lassen, als hätte zwischen den toten Steinen eine Schlacht um die letzten Brocken des alten Glanzes einer noch älteren Heiligenstätte getobt. Von den zerstörten Figurinen war nur mehr ein Friedhof aus den Dingen geblieben, die sich nicht gegen die Urkräfte der Natur und der Zeit hatten behaupten können.

Die gruseligen Blicke der Vögel waren fort.

Zum größten Teil zerschlagen, nur wenige Augenhöhlen und Schädel überhaupt noch intakt. Nicht genug, um das unheilvolle Knistern in der Atmosphäre aufrecht zu erhalten. Gerade so viel, um den Anblick der Zerstörungen zu untermalen.

Nur noch wenige Staubpartikel tanzten durch die Dunkelheit des Gewölbekellers, flirrten in einem geisterhaften Windstoß über den Tempelboden, um sich dann vollständig auf die Gesteinsbrocken am Fuß der Stützbalken zu legen. Das Mauerwerk schien in einer Schicht aus schwarzgrauen Schneeflocken zu versinken, bis die scharfen Kanten der Steine kaum noch unter dem Belag zu erkennen waren. Die Düsternis schluckte einen großen Teil der Fackelbeleuchtung ins Nichts, sodass Flordelis trotz der aufklarenden Tempelatmosphäre kaum bis zu den Stützposten der Wachmänner zu blicken vermochte.

Was sie sah, waren nur wenige Lichtkegel. Die meisten davon in der Nähe. Von Feuerstellen, die nicht von dem Beben unter herabstürzende Mauerteile gezogen worden waren.

Zwar glaubte sie, in der Ferne noch schwach die Umrisse mehrerer Personen erkennen zu können. Doch ein großer Teil des Geschehens in den weiteren Ausläufern des Kellers erschien ihr verwaschen, verschluckt von den Partikeln der puren Zerstörungsgewalt, die das Licht viel zu schnell von den Umrissen tranken. Nur die Dinge, die sich in unmittelbarer Umgebung befanden ...

In ihrer Umgebung ...

Sie blinzelte.

Marell!

Sie schleifte ihre Wange über den Tempelboden, um den Blick zur ehemaligen Standposition des Söldners zu wenden. Auch er war in ihrer Nähe gewesen. So nah an ihr und den herabstürzenden Mauerblöcken, dass sie beinahe erwartete, einen weiteren zerschlagenen Körper unter einer Schicht aus Steinmehl zu entdecken.

„He!", röchelte sie. „Söldner!"

Doch im Grunde rechnete sie nicht mit einer Antwort. Nicht bei dem Unglück, das sie seit ihrem Aufbruch vor den Türen des Wegehauses verfolgte.

Nur Sekunden der Stille ... und ihr wurde kalt. Ein Teil ihrer Seele ... eiskalt, als sie den Haufen aus Stoff und Fleisch zwischen den Trümmern einer eingefallenen Mauer erblickte.

„Söldner!"

Sie konnte nicht verhindern, dass sich ihr Herzschlag beschleunigte. Noch nicht einmal den Zustand ihres eigenen Körpers hatte sie nach dem Sturz auf den Boden in allen Facetten erfasst, die Schmerzen in ihren Armen und Beinen gar nicht so recht registriert. Zuerst kam da nur ein Gedanke zurück. Nach all dem ... Nach all den Dingen, die sie überlebten ...

Nicht ... Nicht so, verfickte Scheiße.

Ihre Lungen brachten kaum mehr als ein verzweifeltes Pfeifen durch die Kehle, als sie sich mit den Unterarmen in eine Stützposition aufzuraffen versuchte. Die Staubschicht brannte wie Feuer in ihrem geschundenen Hals und verwandelte die ersten Atemzüge in ein ganz neues Inferno der Qualen, sodass sie für einen kurzen Augenblick am liebsten wieder die Luft angehalten hätte.

Ein Schwert aus Rabenblut: Der Durst einer SeeleWhere stories live. Discover now