Kapitel 16: Das selbe ist nicht das gleiche

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Frau Dr. Will nimmt eine Tube und kleckst mir Glibber Schleim auf den Bauch. Igitt ist das kalt. Sie drückt mit dem Ultraschallding auf meinen Bauch. Das Kitzelt ein bisschen. Auf dem Bildschirm sieht man ein komisches Bild. Das ist aber gar nicht bunt und ich erkenne überhaupt nichts.

Nach ungefähr einer Minute drückt sie einen Knopf, und das Bild bleibt stehen, obwohl sie das Ultraschallding wieder an das Gerät hängt.

Dr. Will: „Das sieht alles soweit normal aus. Hier auf dem Bild seht ihr die Blase, das ist das Ding in dem das Pipi darauf wartet, dass du aufs Klo gehst. Und hier der schmale Strich, das ist der Harnleiter, das ist eine Art Röhre oder Schlauch, da läuft das Pipi durch, wenn du pinkelst. Momentan ist Pipi in der Blase. Wir machen jetzt folgendes: erst mal wischen wir das Glibber Gel ab und du ziehst dein T Shirt wieder an. Dann gehst du noch mal aufs Klo. Mit oder ohne Mama darfst du selbst entscheiden. Danach schauen wir noch mal mit dem Ultraschall in deinen Bauch. Den Rock können Sie hier lassen. Ich gehe schnell zu einem anderen Patienten, das kann vielleicht 10 Minuten dauern, aber Sie können dann einfach hier warten."

Frau Dr. Will verschwindet und ich gehe mit Mama aufs Klo. Eigentlich muss ich gar nicht, ich war ja vorhin. Aber ein bisschen was kommt trotzdem. Als wir wieder im Ultraschallzimmer sind nimmt mich Mama auf den Schoß.

Beate: „Und, war das so schlimm?"

Anne: „Nein, das war aber kalt und kitzelig und komisch und hat ein bisschen gedrückt. Und über Nasse Hosen reden ist halt voll peinlich."

Beate: „Das verstehe ich, aber es geht halt nicht anders."

Wir warten eine Weile und kuscheln dabei. Dann kommt Frau Dr. Will wieder und ich soll wieder auf die Liege. Diesmal geht es etwas schneller als vorhin.

Dr. Will: „So, fertig, hier ist wieder Papier zum Abwischen und dann kannst du dich wieder anziehen."

Während Mama mir hilft, redet sie weiter: „Hier auf dem Ultraschallbild sieht man, dass immer noch Pipi in der Blase ist. Das zeigt mir, dass Anne beim Pipi machen die Muskeln nicht ganz so verwendet, wie das richtig wäre. Das ist zumindest ein Teil des Problems. Das zeige ich euch gleich noch mal mit einem Luftballon voll Wasser, wenn ihr mit Anziehen fertig seid."

Frau Dr. Will macht eine Schublade auf und holt einen Luftballon raus. So ein ganz normaler, den man auch für den Kindergeburtstag aufpustet. Was der mit meinem Pipi zu tun hat, verstehe ich nicht.

Dr. Will: „Anne, komm mal hier ans Waschbecken."

Sie macht Wasser in den Luftballon, aber nicht viel. Er wird nicht größer.

Dr. Will: „So, jetzt machen wir mal das Ende vom Luftballon zwischen deinen Ringfinger und deinen kleinen Finger. Wenn du die zusammen drückst, kannst du ihn zuhalten. Den Luftballon legen wir in deine Hand und die machst du ein bisschen zu. Wenn du jetzt das Wasser raus lassen willst, musst du als erstes aufhören, mit Ringfinger und kleinem Finger zu drücken. Probier' mal. Genau. Gut. Aber jetzt ist nicht das ganze Wasser draußen. Deshalb musst du mit den anderen Fingern den Ballon zusammendrücken. Genau. So, ich mache den jetzt ein bisschen voller, und dann probierst du, den so zu halten, dass erst mal nichts raus läuft."

Frau Dr. Will macht den Ballon noch mal voll, so dass er ein ganz kleines bisschen größer wird. Sie gibt ihn mir wieder in die Hand. Als sie los lässt, tropft Wasser raus, das zwischen meinen Fingern durch den Ausgang vom Ballon läuft.

Dr. Will: „Mit den beiden Fingern ein bisschen fester zu halten."

Ich drücke die Hand etwas zu, aber es klappt nicht richtig.

Dr. Will: „Anne, siehst du? Du drückst mit allen Fingern auf den Ballon. Die, die das Wasser raus drücken, sind aber stärker, als die, die zu halten. Genau das wollte ich dir zeigen. Wenn du das Pipi anhalten willst, darfst du nur da anspannen, wo der Luftballon zu gehalten wird und nicht den ganzen Bauch. Wenn es dann raus soll, musst du erst da los lassen und dann warten, bis fast alles raus ist. Dann musst du die Muskeln im Bauch anspannen, und den Rest raus drücken. Dabei darfst du aber nicht da anspannen, wo zu gehalten wird, sonst kommt nicht alles raus. Das ist wahrscheinlich das Problem, warum bei dir vorhin nicht alles Pipi raus gekommen ist."

Beate: „Das klingt ziemlich kompliziert. Glauben Sie, das kann man mit sechs schon so verstehen? Bringt das nicht nur Durcheinander?"

Dr. Will: „Ja, das ist ein bisschen kompliziert. Deshalb haben wir das ja mit dem Luftballon gemacht. Und das beim ersten mal zu verstehen, ist mit sechs Jahren sicherlich schwierig. Das können Sie zuhause zusammen noch ein paar Mal genauso üben. Im Körper ein Gefühl für die richtigen Muskeln zu bekommen, ist noch etwas schwieriger, aber zu wissen, wie es funktioniert, ist die Voraussetzung dafür, dass man das lernen kann. Wenn man sich das von Anfang an so angewöhnt, ist das natürlich einfach. Aber Anne kann nichts dafür, dass das am Anfang nicht richtig geklappt hat und das braucht auch Zeit, sich da umzugewöhnen. Jetzt möchte ich aber noch von euch hören, wann und wie Anne wieder Windeln trägt und wie das für dich ist. Ich weiß, dass das peinlich ist, aber das muss ich wissen, damit ich einen Vorschlag machen kann, wie es weiter geht. Wahrscheinlich reicht die Kurzfassung, ich kann ja dann nachfragen."

Beate: „Na ja, wir waren am Freitag einkaufen, und da habe ich Maren, ihre kleine Schwester im Drogeriemarkt frisch gemacht und Anne hat gesagt ‚Maren hat keine Pipi Unfälle, ich will auch eine Windel' Sie ist wohl etwas erschrocken, als sie gemerkt hat, dass sie das wirklich gesagt hat. Ich fand die Idee zuerst doof. Anne ist ja schon groß kann aufs Klo gehen. Aber wir haben das dann ausprobiert. Und Nächste Woche fahren wir in Urlaub, da wäre es mir schon lieber, wenn ich dort kein Bettzeug waschen muss. Deshalb habe ich dann auch ein Paket gekauft. Ich habe ihr die Entscheidung weitestgehend selbst überlassen, wann sie eine anzieht und wann nicht. Sie hatte jetzt am Wochenende so etwa halbtags eine an. Wenn wir Besuch hatten, war es ihr zu peinlich. Sie hat auch teilweise absichtlich rein gepinkelt. Das hatte ich ihr erlaubt und ich habe das Gefühl, dass ihr das nichts ausmacht. Ich frage mich, ob ich da ein falsches Signal setze und ich mir vorwerfen muss, dass ich zu faul bin, ihr das trocken werden bei zu bringen."

Dr. Will: „Da kann ich sie beruhigen. Anne ist kein Kind, das noch nicht trocken ist. Sie hat das aufs Klo gehen genauso gelernt, wie die meisten anderen Kinder auch. Die Pipi Unfälle sind was anderes. Natürlich sieht das erst mal genauso aus, wie wenn ein Baby Windeln braucht. Aber das ist nicht das gleiche. Das ist eine leichte Form der Inkontinenz. Anne, das heißt, dass du da nichts dafür kannst, obwohl du dir genug Mühe gibst. Viele Menschen haben irgendein kleines oder großes Problem. Da kann man meistens nichts dafür. Dein Problem fällt halt vielen auf und leider ist das ein Problem bei dem viele Leute was falsches drüber denken. Viele Probleme sieht man einfach nicht, da bekommen es weniger Leute mit. Es gibt aber auch andere Probleme, die man den Leuten ansieht. Schau mich zum Beispiel mal an. Was für ein Problem habe ich, das du nicht hast?"

Anne: „Keine Ahnung."

Dr. Will: „Frau Mandel, was denken Sie?"

Beate: „Keine Ahnung."

Dr. Will: „Anne, schau mal, was ich auf der Nase habe."

Anne: „Eine Brille."

Ich verstehe nicht, was mein Pipi Problem mit der Brille von Frau Will hat.

Dr. Will: „Und warum habe ich eine Brille auf?"

Anne: „Weil du ohne Brille nicht so gut sehen kannst."

Dr. Will: „Genau, aber ohne Brille kann ich trotzdem was sehen, ich muss mich nur mehr anstrengen und muss vielleicht ganz nah an ein Schild gehen, um es richtig zu sehen. Aber sagt irgendwer, ich soll mich einfach mehr anstrengen und dass ich die Brille nur benutzen darf, wenn ich was lesen will?"

Beate: „Aber das ist doch was anderes als Windeln. Sie brauchen die Brille doch. Außerdem denkt bei Windeln doch jeder an Babys, weil alle Babys Windeln brauchen."

Dr. Will: „Eigentlich ist das nichts anderes. Außerdem brauchen nicht nur Babys Windeln. Die gibt es auch für Erwachsene. Und es gibt halt nicht nur Schwarz und Weiß. Natürlich gibt es Menschen, die Windeln brauchen, weil sie keinerlei Kontrolle haben, aber die meisten haben halt irgendwas dazwischen, also ein bisschen Kontrolle. Ich mache ein anderes Beispiel. Sie haben ja sicher schon Menschen gesehen, die im Rollstuhl sitzen. Viele von denen können überhaupt nicht laufen oder stehen, aber viele können ein bisschen mehr oder ein bisschen weniger laufen oder stehen. Und das gilt auch für Kinder im Rollstuhl. Haben Sie schon mal irgendwen sagen hören, ‚das Kind da drüben ist ein Baby weil es mit neun Jahren noch nicht laufen kann und im Rollstuhl sitzt. Babys können ja auch nicht laufen. Das Kind ist bestimmt nur zu faul'?"

Beate: „Das ist ein gutes Beispiel. So habe ich das noch gar nicht gesehen. Aber es gibt doch auch Kinder, die zu faul sind, um aufs Klo zu gehen."

Dr. Will: „Ja, das ist aber sehr selten und meistens hat das dann andere Gründe. Zum Beispiel, dass in der Familie irgendwas ganz arg schief läuft. Die Kinder, die wirklich zu faul sind, gibt es natürlich auch, aber es gibt ja auch Leute, die im Lotto gewinnen. Da redet auch jeder drüber, obwohl es ganz selten ist. Wir sind da bei dem typischen Spruch ‚Das Gras wächst nicht schneller, auch wenn man daran zieht'. Die meisten Kinder wollen irgendwann trocken werden. Klar lassen sich viele ein paar Wochen mehr Zeit als sie bräuchten. Aber ich würde sagen, von den Kindern, die trocken werden können, lässt sich vielleicht nur eines von hundert ein ganzes Jahr länger Zeit, als es bräuchte. Aber auch bei denen empfehle ich, das abzuwarten. Dann ist es nämlich die Entscheidung der Kinder und die Motivation von sich selbst aus ist viel stärker, als jede Belohnung oder Bestrafung von außen. Bei Kindern, die sich noch länger Zeit lassen, muss man natürlich etwas nachhelfen, aber das ist vielleicht eines von tausend und bei den meisten liegt das dann an irgendwelchen Familienproblemen und nicht wirklich an den Kindern."

Anne trägt wieder WindelnHikayelerin yaşadığı yer. Şimdi keşfedin