#2 Perfektion ist relativ

1.7K 159 14
                                    

Es gibt kein perfektes Leben, nur perfekte Momente in jedem Leben.

~ Unbekannt

_______________________________________


Kazumi liebt die frühen Morgenstunden.

Sie liebt einfach alles an ihnen. Den Anblick der ersten Sonnenstrahlen, die alles in warmes, goldenes Licht tauchen sobald die Sonne am Horizont erscheint, die kühle Brise, die dem jungen Mädchen fast schon verspielt durch das blonde Haar fährt, das Glitzern der kristallklaren Wasseroberfläche, die sich leicht kräuselt, genauso wie den frischen Tau auf den hellen grünen Gräsern der weiten Wiese und das leise Zwitschern vereinzelter Vögel.

Für Kazumi gibt es kaum etwas schöneres als solche Momente und die genießt die 16-Jährige in vollen Zügen.
An einem solchen Morgen sitzt sie am liebsten genau wie jetzt vor dem kleinen See hinter ihrem Heimatdorf und lässt ihren Gedanken freien Lauf, während ihre nackten Füße das kühle Nass berühren und der Temperaturunterschied ihre Haut leicht kribbeln lässt.

Es ist perfekt.

Dieser Anblick, die Atmosphäre, die ganze Stimmung...
Ein vollkommener Moment in einem nicht immer ganz so fehlerlosen Leben.

Der Tod ihrer Mutter hat dem Mädchen schon früh beigebracht, dass gerade solche Momente kostbarer sind als jeder Schatz, denn diese Gelegenheiten sind selten und sollten genossen werden, wann immer sie sich bieten.
Bevor es zu spät ist, denn irgendwann geht alles zu Ende.

Manchmal wünscht sie sich, dass solche Augenblicke für immer wären.
Dass die Zeit einfach stehen bleiben könnte.
Dass sie diese Schönheit und Vollkommenheit auf alle Ewigkeit irgendwie speichern könnte.
Dass diese Perfektion niemals vergehen würde.
Doch Kazumi ist durchaus realistisch. Egal wie sehr sie es sich wünscht oder wie oft sie heimlich davon träumt:

Es gibt keine ewige Schönheit.

Jede Art von Vollendung, von Perfektion, wird irgendwann vergehen.
Vielleicht in einer Sekunde, zwei Stunden, fünf Monaten oder dreißig Jahren...
Irgendwann ist es vorbei und dieser Gedanke stimmt das Mädchen immer wieder aufs Neue unglaublich traurig.
Insgeheim träumt das Mädchen von vollendeter Schönheit, ewiger Perfektion.

Doch was ist schon perfekt?

Dieser Anblick?
Für Kazumi durchaus.
Andere empfinden vielleicht die Vögel als störend oder halten das Wasser für zu kalt.
Wer weiß das schon?
Jeder Mensch hält etwas Anderes für perfekt, für unverbesserlich und absolut vollkommen.

Perfektion ist relativ.

Sie liegt im Auge des Betrachters und hat genauso viele Gesichter wie Namen.

Seufzend erhebt sich Kazumi und betrachtet noch einen kurzen Augenblick die Szene vor ihren Augen, bevor sie sich schweren Herzens davon abwendet. Noch immer barfuß und mit den Schuhen in ihren Händen überquert sie das dichte Gras, welches leicht an ihren nackten Füßen kitzelt, und läuft auf die kleine Häusergruppe zu.

Sie möchte auf jeden Fall Zuhause sein bevor ihr Vater aufsteht. Er mag es nicht, wenn sie "herum strawanzt", wie er es nennt.
Seit dem Tod ihrer Mutter ist er überaus eigen in solchen Sachen geworden, was vielleicht an dem Sake liegt, den er in hohen Mengen genießt. Teils, um das Loch in seinem Herzen zu füllen und teils, um es zu vergessen.
Kazumi liebt ihren Vater. Das tut sie wirklich, doch wenn er betrunken ist, scheint er ein anderer Mensch zu sein. Nicht mehr gütig und zuvorkommend wie früher, sondern laut, ausfallend und schon mal aggressiv. Dann ist er nicht mehr ihr Vater, sondern fast schon ein Fremder.
Und das macht ihr Angst.

Eilig läuft das junge Mädchen über die Wiese und zielstrebig auf eine kleine Hütte zu, die am Rand des Dorfes steht. Das ohnehin schon helle Holz ist zusätzlich von der Sonne verblichen, wirkt etwas morsch und auch die graubraunen Tonziegel auf dem Dach haben bereits bessere Tage gesehen. Und trotzdem sticht das kleine Haus nicht heraus, sind doch die restlichen Gebäude in keinem besseren Zustand. Leise und vorsichtig öffnet Kazumi die Türe und spitzelt in den dunklen Hausgang hinein.
Kein Geräusch dringt nach draußen und ohne weiter zu zögern betritt sie ihr Elternhaus, bevor sie ihre Schuhe leise neben die Tür stellt. Auf Zehenspitzen schleicht das Mädchen den Gang entlang und eine enge Holztreppe nach oben, wobei sie die dritte Stufe übersteigt, die ansonsten unter ihrem Körpergewicht verräterisch knarren würde. Im ersten Stock angekommen wirft sie einen vorsichtigen Blick durch die offene Schlafzimmertür ihres Vaters und entdeckt diesen auf dem Bauch liegend im Bett. Drei leere Flaschen stehen vor dem Gestell auf dem Boden und eine weitere befindet sich auf dem Nachttisch neben ihrem Vater. Ruhig und gleichmäßig geht sein Atem und Kazumi schleicht vorsichtig weiter. Am Ende des Ganges befindet sich ihr Zimmer und leise schließt das Mädchen die Türe hinter sich, bevor sie erleichtert aufatmet.
Sie hat es geschafft.
Kurz lässt sie ihren Blick über die spärliche Einrichtung bestehend aus einem Bett und einem Schrank sowie einem kleinen Nachttisch schweifen ehe sie sich auf die Kante ihres Bettes setzt. Die warmen Strahlen der Sonne dringen durch das Fenster nach drinnen und auch ein paar Vögel kann Kazumi hier singen hören. Ganz leise nur, doch das Zwitschern zaubert ihr ein Lächeln aufs Gesicht, welches noch etwas breiter wird, als sich ein kleiner roter Kater schnurrend an ihre Beine drückt. Akito hat wohl in ihrem Zimmer geschlafen und vorsichtig hebt sie das Tier nach oben, um es auf ihren Schoß zu setzen. Schon seit geraumer Zeit ist der brave Kater ihr eigentlich einziger Freund, bester Zuhörer und engster Vertrauter.
Das ist Kazumi nur lieb, denn mit Tieren kann sie mehr anfangen als mit den meisten Menschen.
Tiere sind loyal, treu und wissen auch ohne Worte immer genau, wie sie etwas rüberbringen. Im Gegensatz dazu reden Menschen meistens zu viel und durch ihre anscheinend angeborene selbstzerstörerische Ader schaden sie nicht nur sich selbst, sondern auch allen in ihrer Umgebung einschließlich der Natur. Für ihre Prinzipien kämpfen sie gegen ihre eigenen Familien, für ihren Stolz töten sie ihre Brüder.

Menschen sind dumm.

Tiere töten nur, was sie zum Überleben brauchen. Sie leben mit der Natur und nicht gegen sie.
Ob sich die Menschen wohl irgendwann bessern werden?
Mit ihrem ewigen, nie zu stillendem Hunger nach immer mehr?
Mehr Macht.
Mehr Geld.
Mehr Befriedigung von Gelüsten, egal ob Alkohol oder fleischlicher Begierde.
Mehr Ruhm.
Mehr Ansehen.

Menschen widern sie an.

Und dennoch...
Menschen können gütig sein und großzügig.
Sie können enge Bindungen zu ihren Familien und Freunden pflegen.
Sie können lieben - aus tiefstem Herzen und mit ganzer Seele.

Die Menschheit mag verkorkst sein und sich mehr als oft von ihrer schlechtesten Seite zeigen, doch in jedem Menschen steckt etwas Gutes und das ist es, was einen Menschen zu einem Menschen macht. Dieses auf und ab an Gefühlen beweist einem, dass man wirklich lebt und macht jeden Menschen irgendwie perfekt.

Davon ist Kazumi fest überzeugt.

完璧 Perfektion - Denn Puppen lieben nicht (Sasori FF)Where stories live. Discover now