#25 Prozesse der Entwicklung

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A/N: Frohe Weihnachten :3 ♡

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Wer vor der Vergangenheit die Augen verschließt, wird blind für die Gegenwart.

- Richard von Weizsäcker

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Wie lange kann ein Mensch baden?

Nicht zum ersten Mal sieht Sasori ungeduldig von dem Buch in seinen Händen auf, welches er sich bereits vor einer Weile aus dem Regal genommen hat, um einen Blick auf die Wanduhr in dem Zimmer der Herberge zu werfen.
Inzwischen ist es schon kurz nach halb acht Uhr abends, was bedeutet, dass Kazumi seit einer guten Stunde im Badezimmer ist. Kopfschüttelnd wendet er sich wieder dem Buch zu, lehnt sich so weit zurück, dass er nun nicht mehr wie zuvor an der Kante des Bettes sitzt, sondern mit dem Rücken auf der Matraze liegt. Die Arme mit dem Buch streckt er nach oben, um es weiter vor sein Gesicht zu halten. Stumm liest er das Geschriebene, fragt sich nicht zum ersten Mal, was dieses Buch überhaupt für einen Sinn hat.

'Sie fühlt sich frei, glücklich und jede Sorge scheint in weite Ferne zu rücken.
Jeder Gedanke an ein mögliches Ende, an ein "für immer verlorengehen" wird aus ihrem Kopf verdrängt, während sie die Melodie eines alten Kinderliedes summt.
Erinnerungen überfluten sie, ertränken den Gedanken, weiter zu ziehen.'

Stirnrunzelnd liest er diesen Abschnitt der Geschichte erneut.
Ein "für immer verloren gehen"...
Das ist es, was auch er versucht um jeden Preis zu vermeiden, doch der Gedanke daran ist stets präsent. All seine Taten, seine Pläne, seine Ziele sind danach ausgerichtet.
Es dreht sich nur darum, wie er sein Ziel erreichen kann.

Die Ewigkeit.

Es dreht sich nur darum, wie der der Vergänglichkeit und dem Ende entkommen kann.
Dass die Protagonistin der Geschichte in seinen Händen sich ihren Erinnerungen und damit ihren Fehlern hingibt, widert ihn an. Geräuschvoll klappt er das Buch zusammen und legt es neben sich auf die Matraze bevor er die Augen schließt und tief durchatmet.

Das wird ihm nicht passieren.
Nie wieder...

Er wird perfekt sein, fehlerlos, vollkommen.
Eines Tages...

"Sasori?"
Kazumi's Stimme erklingt in seiner unmittelbaren Nähe und er öffnet die Augen, dreht seinen Kopf ein wenig, um einen Blick auf das Mädchen werfen zu können. Ihre Wangen sind vom heißen Badewasser gerötet, die Haare kleben ihr feucht am Kopf und liegen auf ihren Schultern auf, wo sie den Stoff ihres grauen T-Shirt's durchnässen.
Mit großen, blauen Augen begegnet sie seinem Blick setzt sich zögernd an die Bettkante bevor sie das Buch entdeckt. Sofort legt sich ein sanftes Lächeln auf ihre Lippen und sie nimmt es in die Hand, streicht mit ihren Fingern beinahe schon liebevoll über den braunen Einband.
"Eine meiner Lieblingsgeschichten.", lässt sie den Puppenspieler wissen, der daraufhin seufzend seinen Blick wieder zur Decke richtet.
"Hätte ich mir denken können..."
"Gefällt sie dir nicht?"
"Sie ist sinnlos. Oder sag du mir: Welchen Zweck soll es erfüllen, dass die Protagonistin ihren Erinnerungen hinterher jagt?"
Er kann aus dem Augenwinkel erkennen, wie ihr Lächeln ein wenig schwindet und Kazumi leicht den Kopf schüttelt.
"Du hast es nicht begriffen.", stellt sie fest.
Ihre Stimme klingt fast schon enttäuscht und sofort sieht Sasori zurück zu der Blonden, um ihrem Blick zu begegnen.
Er beginnt zu reden, um dieses merkwürdig bittere Gefühl, das plötzlich in ihm aufsteigt, zurückzudrängen, seine Mimik völlig starr.
"Es gibt nichts zu begreifen. Sie ist schwach und versinkt in ihrer Vergangenheit, jagt ihren Fehlern hinterher. Es wäre fast schon bemitleidenswert, wäre es nicht so entsetzlich erbärmlich.", zischt er schon fast und beobachtet, wie das Mädchen das Buch in ihren Händen ruhig auf das Nachtkästchen legt bevor sie sich daran macht, auf dem Bett näher zu ihm zu rutschen.
"Du irrst dich. Es geht hierbei um Prozess."
Erneut kommt sie etwas näher, dreht sich herum, um sich auf ihre Arme gestützt zu ihm zu beugen.
"Es geht darum, dass man sich seiner Vergangenheit stellen muss, um weiter zu kommen."
Gebannt lauscht Sasori ihren Worten während sie noch weiter auf ihn zu krabbelt. Ihre Hände ruhen jetzt links und rechts neben seinem Kopf, ihr Körper berührt fast den seinen während ihr Gesicht über seinem schwebt. Einzelne Tropfen ihrer feuchten Haare landen auf der Matraze und seiner Wange, doch das stört ihn nicht. Er ist absolut eingenommen von dem intensiven Blick ihrer blauen Augen, lauscht dem Klang ihrer ruhigen Stimme, als Kazumi leise fort fährt.
"Es geht darum, dass man sie akzeptieren muss, um sich zu verändern und dass man sie nicht einfach verdrängen kann. Dass man kämpfen muss, um nicht in ihr zu ertrinken und dennoch immer daran denken sollte, dass man ohne sie niemals der sein würde, der man heute ist. Weil unsere Vergangenheit uns formt und ein fester Bestandteil unseres Lebens ist. Diese Geschichte lehrt zu akzeptieren, nicht zu verleugnen."
Kazumi's Stimme ist kaum lauter als ein Flüstern und ihre blauen Augen glänzen beinahe schon aufgeregt während sie redet. Langsam hebt Sasori eine Hand und streicht dem Mädchen sacht eine Strähne ihrer feuchten Haare aus dem Gesicht, steckt sie vorsichtig hinter ihr Ohr.
"Die Fehler akzeptieren, um sie zu überwinden...", murmelt er abwesend.
Seine Finger fahren fast schon beiläufig über Kazumi's Wange, die unter seiner Berührung noch ein wenig mehr an Farbe zu gewinnen scheint.
"Nicht jede Erinnerung ist ein Fehler, Sasori."
"Jede Erinnerung ist ein Beweis dafür, dass man nicht vergessen kann. Auch, wenn es manchmal wirklich besser wäre, einfach loszulassen."
Leicht zieht die Blonde ihre Augenbrauen zusammen und versucht in seinen Augen zu lesen, was diese Worte zu bedeuten haben.
Doch sein Blick ist unergründlich, wie so oft.
Sie kennt das Gefühl, wenn Erinnerungen schmerzen, weil sie eben nicht mehr sind, als Schatten dessen, was man verloren hat. Dennoch würde sie niemals ihre Mutter vergessen wollen, den Klang ihrer Stimme oder ihr aufmunterndes Lächeln. Auch, wenn es sie manchmal beinahe innerlich zerreißt. Kazumi ist sich aber nicht sicher, wie es bei Sasori ist.
Würde er wirklich lieber alles vergessen?
Ist sein Leben derart schmerzhaft?
"Gibt es denn nichts, woran du dich gerne erinnerst?", will das Mädchen wissen, ehrliche Besorgnis in ihrer Stimme und ihrem Blick.
Kurz überlegt der Puppenspieler, zögert bei seiner Antwort.

Natürlich gibt es auch Erinnerungen, die er nicht missen möchte. Der Bau seiner ersten Marionetten zum Beispiel oder das Hochgefühl, als er kurz vor der Erfüllung seines Traumes von einem Puppenkörper stand. Doch all diese Ereignisse waren nicht nur positiv. Sie alle werfen einen dunklen Schatten, hinterlassen einen bitteren Nachgeschmack und einen ziehenden Schmerz in seinem Inneren.
Sie erinnern ihn auch an die traurigen Erlebnisse, die Auslöser für seine Entscheidungen waren. Der Tod seiner Eltern, die seine ersten Marionetten waren, oder der Entschluss die Menschlichkeit hinter sich zu lassen, nach dem er angefangen hat Pläne für seinen eigenen Puppenkörper zu entwerfen.

Jede einzelne Erinnerung voller Gefühl.
Voller Fehler.

Als Sasori nicht antwortet lehnt sich Kazumi noch ein wenig weiter nach unten, streicht mit ihrer Nase über seine.
"Sag mir, Sasori... Gibt es wirklich keine Erinnerung, die du behalten willst?"
Kazumi's warmer Atem streift sein Gesicht, der blumige Geruch irgendeiner Seife steigt ihm in die Nase während er ihre Nähe genießt.
Kaum merklich nickt der Rotschopf bevor er mit seiner Hand über ihre Wange streichelt, sie weiter zu ihrem Hals wandern lässt und schließlich in ihren Nacken legt.
"Vielleicht... gibt es da etwas.", raunt er beinahe lautlos.
Ohne zu zögern zieht Sasori ihren Kopf zu sich, schließt die Augen, während er es genießt, wie Kazumi's warme Lippen mit seinen verschmelzen. Vorsichtig umfasst er ihre Hüfte und zieht sie näher an sich. Er spürt das Gewicht ihres Körpers auf seinem, ihre Wärme, ihre Nähe.
In diesem Augenblick scheint alles in weite Ferne zu rücken.

Jeder Gedanke an sein fehlerhaftes Verhalten, an sein menschliches Verhalten, wird mit diesem innigen Moment aus seinem Kopf verdrängt.
Kazumi's Wärme überflutet ihn, ertränkt seine Angst vor dem "für immer verlorengehen" in sich selbst.

Die Vergangenheit...
Die Zukunft...

Seine Erinnerungen...
Seine Pläne...

Das alles ist Sasori gerade absolut gleichgültig.
Das einzige was zählt ist diese Nähe, diese Wärme, diese Berührungen.

Es ist dem Puppenspieler gerade vielleicht nicht vollkommen bewusst, doch eines Tages wird er sich an genau diesen Moment erinnern.
Und er wird es tun, so wie er sich an den Bau seiner ersten Marionetten erinnert.
Mit einer Mischung aus Zuneigung, Bereuen und Sehnsucht.
Mit dem Wunsch, dass er diesen Augenblick noch einmal erleben könnte und dem Wissen, dass es nicht das selbe wäre.

Ja, er wird sich erinnern und er wird es gerne tun.

完璧 Perfektion - Denn Puppen lieben nicht (Sasori FF)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt