#4 Leben in einer anderen Realität

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Wäre ich ein Anderer,
wenn ich anderswo geboren wäre?

- Walter Ludin

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"Wir sind nur ein kleines Dorf.", erklärt Kazumi, während sie neben Sasori die Wiese überquert und in Richtung der überschaubaren Häusergruppe läuft.
"Offensichtlich.", entgegnet der Rotschopf knapp.
Er muss sich sehr zu einer Antwort überwinden. Menschen sind anstrengend. Sie heben ständig das Offensichtliche heraus, betonen das sowieso schon Bekannte. Es ist unnötig, lächerlich und absolut nervig.
Trotzdem scheint dieses Mädchen eine der wenigen hier zu sein, die er nach Informationen ausfragen kann. Wahrscheinlich sogar die einzige.
Er darf sie nicht sofort vergraulen.
"Wir sind nur wenige, leben von dem, was wir selbst erwirtschaften. Viel Handel gibt es bei uns nicht, Besuch bekommen wir ebenfalls selten."
Erneut etwas, das der Rotschopf bereits weiß. Tief atmet er durch und hält seinen Blick stur nach vorne gerichtet. Er fragt sich manchmal wirklich, weshalb Menschen alle so durchschaubar sind.
Auch, wenn ihn das Mädchen anfangs mit ihrer Sicht über Kunst ehrlich überrascht hat, ist sie jetzt genau wie alle anderen.
Berechenbar.
Langweilig.
Und sie redet genauso viel wie Deidara.
"Was führt dich her, Sasori?"

Neugierig betrachtet sie das Profil des Fremden, der noch immer nicht die kleinste Emotion zeigt, und wieder fragt sich Kazumi heimlich, wieso er nicht reagiert.
Wieso er einfach nur kalt ist - starr - und versucht dieses Bild der Perfektion aufrecht zu erhalten.
Wieso er es schafft, einfach so perfekt zu sein.
"Wir sind auf der Durchreise.", antwortet Sasori, den Blick noch immer nach vorne gerichtet.
Kazumi beobachtet, wie seine braunen Augen über die Umgebung schweifen. Als würde er Gefahr erwarten und gleichzeitig, als würde ihm auch der Tod selbst nichts antun können.
Absolut gleichgültig.
"Wir?"
"Ein...Freund und ich."
Vielleicht bildet sich das Mädchen diese kleine Pause, dieses winzige Zögern des Fremden ein, vielleicht musste Sasori sich jedoch tatsächlich für eine Sekunde dazu überreden, den blonden Explosionsfanatiker als seinen Freund zu bezeichnen.
Für den Rotschopf ist er das nämlich nicht.

Sasori hat keine Freunde - braucht keine Freunde.
Er will keine Freunde.
Jegliche emotionale Bindung ist nutzlos, nein mehr noch: Sie ist überflüssig.
Und obendrein ist eine solche Bindung gefährlich.
Sie ist menschlich.

Ein Fehler.

Sasori hat allen Fehlern abgeschworen. Jedem Gefühl, jedem Begehren.
Lediglich die Ewigkeit ist es, die ihn reizt.
Die Perfektion ist es, die er erstrebt.
"Versteh mich jetzt bitte nicht falsch, aber...", beginnt Kazumi zögernd bevor sie eine kurze Pause macht und nach Worten sucht.
Normalerweise ist das Mädchen keine, die sich viel unterhält. Das Gerede der anderen zieht sie runter und bestärkt sie nur in der Meinung, dass Menschen egoistische und oberflächliche Geschöpfe sind. Ständig fürchtet sie zu viel zu verraten und sich selbst so verletzbar zu machen.
Menschen sind grausam und schrecken nicht davor zurück, eine Aussage gegen einen anderen zu verwenden.
Doch dieser Junge...

Er ist anders.

Seine Gegenwart schüchtert sie ein wenig ein, das kann Kazumi nicht leugnen. Auch er ist bestimmt zu einigem in der Lage. Sie hat das Bedürfnis zu reden, da er anscheinend nicht sehr gesprächig ist.
Sie will sprechen, da sie die Stille ansonsten zu zerdrücken droht.
Und trotzdem macht es ihr nichts aus, mehr oder weniger einen Monolog zu führen. Es macht ihr nichts aus zu riskieren, etwas preis zu geben. Irgendwie empfindet sie es als äußerst angenehm, mit ihm zu sprechen. Weil er nichts Falsches sagt, lieber schweigt.
Das ist womöglich auch der Grund, weshalb Kazumi sich traut diese Frage zu stellen.
"Wie kommen du und dein Freund auf die Idee, hier her zu kommen?"
Nun wandert Sasori' s Blick zu ihr, doch er antwortet nicht. Stumm sieht er sie an - abschätzend, forschend - und für einen Moment hält Kazumi auch dem Blick seiner braunen Augen stand, bevor sie nach vorne sieht.
Sehen muss...
"Es gibt hier nichts. Nicht einmal in der Nähe wäre etwas Nennenswertes. Wir sind arm, abgeschieden und verschlossen. Wieso sollte jemand hierherkommen wollen? Jemand, der offensichtlich die Freiheit hat, überall hin zu gehen."
Ihre strahlenden blauen Augen werden bei dieser Bemerkung eher kalt und starr wie Eis. Nur für den Bruchteil einer Sekunde bevor es wieder zu tauen beginnt, doch Sasori entgeht das nicht.
Die wenigsten Menschen können ihre Emotionen verstecken, nur äußerst selten kaschieren. Auch dieses Mädchen gibt sich dabei größte Mühe, doch es gelingt ihr nicht vollkommen. Sasori weiß, dass Kazumi nicht hier sein will.
Dass sie sich etwas Anderes wünscht.
Ein anderes Leben, eine andere Realität. Vielleicht wünscht sie sich sogar, jemand anderer zu sein.
Er kann es ihr nicht verdenken - schließlich ist sie ein Mensch.

Und auch er wollte damals jemand anderer sein...

Doch das alles geht ihn nichts an.
Es ist nicht sein Problem und das Mädchen könnte ihm nicht egaler sein.
Die Fremde bedeutet ihm nichts.

"Wir sind auf der Durchreise.", wiederholt der Rotschopf also nur monoton.
Kazumi quittiert das mit einem knappen Nicken. Natürlich.
Er hat das vorhin bereits gesagt und für die Blonde ergibt es durchaus Sinn.
Das ist richtig. Niemand mit Verstand würde hierherkommen wollen.
Niemand mit Verstand würde hier bleiben wollen...

Hier, wo andere zu anders sind.

Nur zu gut erinnert sich Kazumi daran, Teil dieser Leute gewesen zu sein.
Einer von ihnen, in intakter Familie. Sie hat mit den Nachbarskindern gespielt, die Erwachsenen haben ihr ein Lächeln geschenkt.
Doch als ihre Mutter starb, änderte sich alles.
Sie war nun anders und wurde auch so behandelt. Die Dorfbewohner fingen an sie zu meiden, die wenigen Freunde wendeten sich von ihr ab. Ihr Vater begann zu trinken, die Erwachsenen zu tuscheln.
Die Kinder taten es ihren Eltern gleich, ließen Kazumi allein.
Manchmal fragt sie sich, ob es auch eine andere Option gegeben hätte.
Ob es auch nach dem Tod ihrer Mutter noch Mitgefühl und Freundschaft hätte geben können.

Oder ob Menschen nur alles zerstören.

Nein...
Sie haben es nicht böse gemeint. Sie hatten Angst, das ist alles.
Und Angst bringt Menschen dazu, furchtbare Dinge zu tun.
Kazumi nimmt es ihnen nicht übel.
Das hat sie nie getan.
Sie wünscht sich nur manchmal, dass die Leute in ihrem Dorf ein wenig offener wären.
Toleranter.

"Auch das noch...", murmelt Sasori neben dem Mädchen und reißt sie so aus ihren Gedanken.
Blinzelnd betrachtet sie erst den Rotschopf, der keine Miene verzieht, bevor sie seinem Blick folgt. Weiter vorne zwischen den Häusern kann sie einen großen Mann erkennen, mit langem blondem Haar.
Ein weiterer Fremder...
Das muss der Freund sein, den Sasori erwähnt hat. Etwas Anderes wäre zwar möglich aber des Zufalls zu viel.
"Komm.", bestimmt Sasori in einem Ton, der keine Widerrede duldet.

Aber bevor Kazumi selbst reagieren könnte greift er bereits nach ihrem Arm und zieht sie bestimmt hinter sich her, entlang der Häusergruppe.
Sasori hat keine Lust darauf zu warten, dass das Mädchen ihm folgt. Noch weniger Lust hat er auf den Blonden und darauf, dass er mit seinem ewigen Geplapper und seinem fehlenden Verständnis von Diskretion vielleicht zu viel verrät.
Er muss Kazumi in Ruhe befragen können.
Allein.

完璧 Perfektion - Denn Puppen lieben nicht (Sasori FF)Where stories live. Discover now