#22 Risse in der Mauer

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Ein Funken im Zunder und alles steht wieder in Flammen. Die ganze Fassade klappt wie ein Kartenhaus in sich zusammen.

- Maxim, "Meine Soldaten"

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Enttäuschung.

Sowohl Sasori als auch Kazumi ist dieses Gefühl nur all zu vertraut.
Dieser bittere Schmerz, wenn man erkennt, dass man belogen wurde...
Diese traurige Erkenntnis, die einen überkommt, wenn Erwartungen nicht erfüllt wurden...
Und obwohl der Puppenspieler schon lange kein Mensch mehr ist, so bleibt ihm die Erinnerung an dieses Gefühl wohl für alle Ewigkeit im Gedächtnis.

Vielleicht ist es das, was die beiden verbindet.

Vielleicht.

Es dauert noch eine ganze Weile, bis das Mädchen endlich einschläft, doch als ihre gleichmäßigen Atemzüge ihren Oberkörper leicht anheben und wieder senken wandern Sasori's Gedanken sofort zurück zu den Fragen, die ihn beschäftigen.
Oder der einen Frage.

Wieso?

Wieso die Mühe?
Wieso die ganze Arbeit, der Aufwand?
Und wieso empfindet er es nicht als nervtötend und anstrengend, sieht es nicht als überflüssig und hält es nicht für Zeitverschwendung?
Wieso will er ihr helfen?

Kazumi bedeutet ihm nichts.
Sie ist nur ein Mädchen aus einem Dorf, wenn man es überhaupt als ein solches bezeichnen kann.
Sie ist weder überdurchschnittlich intelligent noch herausragend schön.
Sie ist normal und dennoch irgendwie anders. Anders als andere Menschen, als andere Mädchen.
Sie trägt ein Leuchten in sich, hat eine unglaublich starke Ausstrahlung.
Ihre Meinung über Schönheit und ihr Streben nach Perfektion - wenn auch sehr subjektiv - sind ungewöhnlich für ihr Alter wie auch für ihre Spezies.
Ja, viele wollen perfekt sein, doch nur wenige folgen ihrer eigenen Sicht dieser Vollkommenheit. Viel zu sehr orientieren sich die Menschen am Verhalten anderer, passen sich der Masse an.
Nicht jedoch Kazumi.
Sie schwimmt gegen den Strom - wie Sasori.
Sie verfolgt ihr eigenes Ziel, wird deshalb von anderen gemieden - wie Sasori.
Und trotz dieser Gemeinsamkeiten ist sich der Rotschopf nicht sicher, ob das der Grund für sein Handeln ist.
Trotzdem versteht er seine Entscheidungen nicht, kann es nicht nachvollziehen.

Egal wie sehr sich Sasori auch den Kopf darüber zerbricht, egal wie angestrengt er auch nach einer plausiblen Erklärung für seine Taten sucht, er kann keinen Grund finden.

Es ergibt einfach keinen Sinn.

Auch, als der Tag schließlich anbricht und das Mädchen und er sich wieder auf den Weg machen, ist der Rotschopf noch immer in seine Gedanken versunken.
Kazumi geht es nicht anders.
Auch sie denkt über das nach, was er zu ihr gesagt hat und versucht die Worte zu begreifen.
Anders als Sasori jedoch, versucht sie die Puzzleteile zusammenzusetzen und nicht nach einer tieferen Bedeutung zu suchen, um den jungen Mann zu verstehen.

Er hilft ihr - wieso auch immer. Das ist erst einmal nebensächlich für das Mädchen.
Was für Kazumi zählt ist das, was seine Aussagen und Taten über ihn selbst verraten.

Sasori ist ein Mann, der es hasst zu warten und auch andere ungern warten lässt.
Ein Mann, der sich nur auf sich selbst verlassen kann.
Ein Mann, der von den Menschen in seiner Umgebung nur verletzt und enttäuscht wurde.
Ein Mann, der sich hinter einer Mauer versteckt, die Vergänglichkeit fürchtet und versucht, eine ganz eigene Art der Perfektion zu erreichen.
Ohne Gefühle, ohne Emotionen. Vielleicht aus Angst, wieder verletzt zu werden.
Was genau ihn dazu bewegt hat kalt und distanziert zu werden, leblos wie eine Marionette, das kann sich Kazumi nicht erklären. Sie weiß nur, dass er womutlich viel durchgemacht hat.
Dass er ganz allein ist und sich hinter dieser kalten Maske, dieser dicken Mauer, ein verletzter und eingeschüchterter Kerl versteckt. Wirklich versteckt. Vor der Welt und ihren Gefahren, vor Gefühlen und der Angst, nochmal enttäuscht zu werden.
Vor allem diese kurze Erklärung des Rotschopfs gestern Nacht hat ihr viel von dem verraten, was ihn ausmacht.

"Wir haben vielleicht mehr gemeinsam, als wir denken und doch weniger, als wir hoffen."

Sasori tut zwar kalt, desinteressiert und unantastbar, doch das ist er nicht.
Nichts davon.
Er ist bereit ihr zu helfen, sie zu begleiten und ohne eine Gegenleistung zu erwarten nimmt er zusätzliche Aufwände und Unannehmlichkeiten in Kauf. Außerdem ist er ein Mann, der tief in seinem Inneren nur eines will.
Und nach Kazumi's Meinung ist das nicht die Perfektion, die in seinem Fall Gleichgültigkeit und Gefühlskälte bedeutet.
Nein, das Mädchen ist sich sicher, dass alles, was der Rotschopf wirklich will jemand ist, dem er vertrauen kann.
Jemand, der ihn akzeptiert, ihn unterstützt und ihn nicht allein lässt.
Jemand, der die Ewigkeit, die er für sich gewählt hat, mit ihm teilt.

Diese Erkenntnis sorgt dafür, dass Kazumi sich nach langem Schweigen leise räuspert bevor sie das Wort an den jungen Mann richtet.
"Du hast gesagt, dass du von den Menschen enttäuscht bist. Dass du nur dir selbst vertrauen kannst. Aber das war nicht immer so, richtig?"
Aufmerksam betrachtet sie sein Gesicht während sein Blick stur nach vorne gerichtet ist. Keine Regung ist zu erkennen, nicht der kleinste Hinweis darauf, dass er sie überhaupt gehört hat.
Doch Kazumi weiß, dass er darüber nachdenkt, was er darauf antworten soll.
Sie kennt ihn inzwischen gut genug, um noch etwas sicher zu wissen.
Er will nicht über die Vergangenheit reden.
Deshalb wundert sie es auch nicht, als Sasori schließlich seine Antwort gibt.
"Das geht dich nichts an."
"Du hast Recht und du musst auch nichts dazu sagen, wenn du nicht willst."
Kurz breitet sich Stille aus und Kazumi wendet den Blick vom gleichmäßigen Gesicht des Rotschopfs ab, um ihn über die weite Umgebung schweifen zu lassen. Tief atmet sie durch.
Es kostet das Mädchen sehr viel Kraft weiter zu reden.
"Als meine Mutter starb, haben mich die anderen plötzlich anders behandelt. Sie haben mich allein gelassen, mich im Stich gelassen. Aber was mich am meisten enttäuscht hat waren nicht ihre faulen Ausreden, mit denen meine Freunde mir aus dem Weg gegangen sind, oder das geheuchelte Mitleid, das manche Erwachsenen über ihre Lippen gebracht haben."
Kurz macht sie seine Pause, beißt sich auf ihre Unterlippe und versucht den Schmerz zurückzudrängen, der bei der Erinnerung an damals in ihr aufsteigt. Deutlich kann sie Sasori's Blick nun auf sich spüren und spornt sich selbst dazu an, weiter zu reden.
"Am Schlimmsten war diese Gleichgültigkeit. Mein Papa hat seine Frau verloren, ich meine Mutter aber niemanden hat es wirklich interessiert. Das hat mich wirklich enttäuscht und sehr verletzt."
"Menschen sind egoistisch und feige.", murmelt Sasori und Kazumi begegnet vorsichtig dem Blick seiner braunen Augen, in denen sie glaubt, so etwas wie Verständnis zu erkennen.
"Nicht alle.", widerspricht die Blonde ebenso leise und der Puppenspieler zieht kaum merklich die Augenbrauen zusammen.
"Aber ein Großteil."
Zögernd nickt das Mädchen und Sasori wendet seinen Blick wieder von ihr ab nach vorne. Für einen Moment breitet sich wieder Stille zwischen ihnen aus.
Der Rotschopf weiß, dass es Kazumi sehr schwer gefallen sein muss, sich ihm anzuvertrauen. Sie scheint ihm zu vertrauen und er ist sich nicht sicher, ob er froh oder besorgt darüber sein soll.
Oder ob es ihm egal sein soll, wie es normalerweise der Fall ist.
Doch Sasori weiß auch, dass letzteres unmöglich ist, denn normal ist nichts von dem, was er mit dem Mädchen erlebt.
"Wieso erzählst du mir das?", will er wissen obwohl er sich ziemlich sicher ist, dass er die Antwort auf diese Frage bereits kennt.
"Manchmal ist es gut, sich jemandem anzuvertrauen. Entweder das oder es zerstört einen irgendwann."
Langsam und bedächtig nickt Sasori.

Sie vertraut ihm.

Wie von selbst scheinen sich seine Lippen zu bewegen. Die Stimme, die seinen Mund verlässt, ist die seine und doch sind diese Worte - obwohl oder gerade weil sie wahr sind - wohl nichts, was er sagen würde.

Niemals zu niemandem.

Weil er keinem vertraut.

"Ich habe wochenlang geglaubt, dass meine Eltern leben würden bevor ich erfahren habe, dass meine Großmutter mich belogen hat."

完璧 Perfektion - Denn Puppen lieben nicht (Sasori FF)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt