Elysium

1. Kapitel

„Also Liam, ich bin positiv überrascht." Staunend reichte mir Mr. Smith die Prüfung zurück. „Wirklich überrascht. Du hast dich deutlich verbessert in den letzten Monaten."

Er legte den Bogen vor mir ab und ging kopfschüttelnd zu dem nächsten. Mit einem Anflug von Stolz nahm ich die Prüfung in die Hand und anders als die Male zuvor gab es deutlich mehr Blau als Rot. Ich blätterte weiter, das Bild aber blieb. Nur vereinzelnd standen in krakeliger Schrift Korrekturen am Rand, die ich rasch überflog. Gut, ich hatte bei Transkription der Proteinbiosynthese die Elongation statt 5'-3' in 3'-5' Richtung geschrieben, das hatte ich mir aber bereits gedacht. Dafür hatte ich entgegen meiner Überzeugung die Tremination der Translation in die richtige Reihenfolge gebracht. Nur die Aminosäuren hätte ich eigentlich besser drauf haben müssen, wertvolle Punkte hatte ich deswegen verloren.
Was für ein merkwürdiges Gefühl intelligent zu sein. Oh Fuck, wurde ich gerade zum Streber?

Grinsend blätterte ich auf die letzte Seite und betrachtete Stolz das B+ am Ende des Blattes. Fuck ein B+!!! Dad würde mich umbringen! Grinsend holte ich mein Handy raus und öffnete den Nachrichtenverlauf mit ihm.

Zur Allgemeinen Überraschung: Biologie B+!!! - Liam

Dad's Status wechselte zu online und tippte, während ich mich neugierig in der Klasse umsah. Allgemein schien sich nur wenige über ihre Noten zu freuen, der Großteil ließ frustriert den Kopf hängen oder diskutierte mit Mr. Smith. Eine gewisse Art der Schadenfreude flammte in mir auf.

Sehr gut mein Sohn, erzähl mir heute Abend davon, ich bin in einem Meeting. –Dad

Also war er heute zu Hause, umso besser.

„Was hast du für eine Note?", flüsterte Josh, der sich zu mir rüber lehnte.

Ich sparte mir die Antwort und tauschte unsere Prüfungen aus. Es war deutlich mehr rot als bei mir, so viel stand fest. Oh Josh wusste nicht, dass das die RNA an die DANN Stränge bindet? Komisch, das war doch logisch und dass sich die RNA während der Transkription bei der Termination ablöste hatte er auch falsch. Hatten wir das nicht vorher extra durchbesprochen? Dafür hatte er das mit den Aminosäuren richtig und ein B-. Ohne meinen Blick abzuwenden, hielt ich ihm unauffällig meine Hand unter dem Tisch entgegen, in die er ebenso unauffällig einschlug.

„B+, wer hätte das erwartet. Glückwunsch Kumpel!", flüsterte er leise und ich bedankte mich, während meine Gedanken wieder zu Ava wanderten.

Ava. Nur ihr verdankte ich diese Note. Gott, ich hatte ihr so viel mehr zu verdanken, als nur diese Note. Sicher hätte sie gesagt, dass diese Fehler wohl vermeidbar waren oder warum ich denn das falsch gemacht hätte. Und ich hätte gelacht und meinen Arm um sie gelegt und es hätte zufällig gewirkt, nicht so als hätte ich den ganzen Tag auf so eine Gelegenheit gewartet.

Hätte.

Ich schüttelte meinen Kopf um diesen Gedanken zu vertreiben, bevor meine Stimmung wieder in den Keller sank. Wenigstens einmal diesen Moment des Erfolges wollte ich voll erleben ohne an sie zu denken. Josh stupste mich an und ich sah, wie er mich von der Seite her komisch musterte. „Wieder sie?", fragte er mitleidig, doch ich lächelte ihn nur ironisch an.

„Wann ist es nicht sie?"

Josh antwortete nicht mehr darauf, sondern wandte sich der Tafel zu, an der Mr. Smith gerade den Durchschnitt anschrieb. Ob Ava wohl an mich dachte? Gott, am liebsten hätte ich mir selber ins Gesicht gehauen. Ich klang wie ein Weichei!

Um mich abzulenken, sah ich durch die Klasse und blieb bei Loren hängen, die offensichtlich darauf gewartet hatte, dass ich sie ansah. Sie zwinkerte mir verführerisch zu, doch wirkte es jetzt nur noch billig. Früher hätten wir mit Handzeichen uns für die nächste Pause verabredet, heute sah ich einfach weg. Was stimmte mit diesem Mädchen bloß nicht? Ständig warf sie mir diese Blicke zu, leckte sich über die Lippen oder machte andere, eindeutigere Gesten. Erhoffte sie sich dadurch meine Aufmerksamkeit? Es schüttelte mich auf eine abstoßende Art und Weise. Was hatte ich bloß an ihr gefunden?

Vielleicht sollte sie es mal bei Jeff versuchen, denn seine Ansprüche schienen, so wie sein Interesse an regelmäßiger Anwesenheit, noch geringer geworden zu sein. Mittlerweile hatte keiner mehr von uns wirklich Kontakt zu ihm, außer Tyler vielleicht, weil ihre Väter zusammen Golf spielten. Und wenn man ihn sah, sah er scheiße aus. Nicht dieses ‚Ich-habe-schlecht-geschlafen', sondern mehr so ‚Ich-zieh-mir-alles-durch-die-Nase-und-schlafe-seit-Wochen-nicht-mehr' Scheiße. Dass er Drogen nahm war weder zu leugnen, noch zu verbergen und so wie er manchmal umherirrte, war der Konsum nicht nur gelegentlich, was unter anderem auch dazu geführt hatte, dass sein Platz in der Mannschaft auf der Kippe stand.

Das, plus die Aktion mit Noah, waren die Gründe warum unser Kontakt gegen Null lief. Auf der einen Seite war es schon ein blödes Gefühl ihn so zu sehen, aber auf der anderen Seite wollte niemand von uns mit in sowas hineingezogen werden. Trotzdem, ich war mir sicher: wenn er irgendwann einmal um Hilfe bitten würde, würde keiner zögern. Dafür waren wir eine zu lange Zeit schon befreundet gewesen und hatten zu viel miteinander erlebt. Wenn er wenigstens reden würde! Aber er machte keine Anstalten einen Schritt auf uns zu zugehen, also taten wir im Gegenzug das selbe: Nichts.

Verdammt, ich wollte aufhören im Unterricht immer zu philosophieren und mich stattdessen mehr auf das Lernen konzentrieren. Das klappte ja wieder richtig gut Jefferson, da konnte man sich schon mal leicht auf die linke Schulter klopfen bei so viel Motivation, die ich hier an Tage legte. Obwohl ich am Ende eh wieder alles zu Hause aufarbeiten musste, von daher konnte ich mir auch eine kleine Auszeit genehmigen, befand ich. Im Prinzip die Pause vor der Pause.

Mein Handy leuchtete auf, da zog ich es bereits unter den Tisch und öffnete verwundert sechs neue Nachrichten von Tyler.

Töte mich nicht!

Ava ist vorhin aus dem Unterricht gegangen

Und nicht wieder gekommen

War etwas aufgelöst, die gute.

Konnte nicht hinterher.

Töte mich nicht!

Verwundert sah ich auf dem Bildschirm, während sich hunderte Szenarien abspielten warum sie aufgelöst war. Tyler war noch online, aber ich antwortete ihm nicht. Im Gegenteil, ich steckte das Handy in die Tasche, hob meine Hand und erklärte einem überraschten Mr. Smith, dass mir plötzlich ganz schlecht geworden war. Er hob misstrauisch seine Augenbrauen, aber mein ungewohnter Erfolg schien sein Herz für mich erwärmt zu haben, denn ohne weitere Diskussion stellte er mir ein Passierschein aus und wünschte mir eine gute Besserung. Das Danke erklang im Raum, ohne dass ich mich noch darin befand.

Auf dem Flur stellte ich fest, dass mein Plan nicht durchdacht war. Woher sollte ich denn auch plötzlich wissen wo sie in solchen Situationen war, wenn man sie schon in den Pausen nicht sah? Spätestens nachdem ich sie in der Bibliothek nicht gefunden hatte, schwand meine Hoffnung dahin wie Nebel bei Sonnenschein. Hatte sie einen geheimen Ort hier irgendwo in der Schule, den niemand kannte?

Oder war etwas mit Amber passiert?

Erschrocken blieb ich vor der Schulkrankenschwester stehen. Oh Gott, bitte nicht. Ich kramte mein Handy raus, drückte die Kurzwahltaste und rief die Sekretärin meines Vaters an um nachzufragen, ob Mr. Hastings notfallmäßig die Arbeit verlassen hatte

Nach längerem Warten aber erfuhr ich, dass er erst zum Nachmittag erwartet wurde, da seine Tochter vormittags zur Dialyse musste. Nachdem ich mich bedankt hatte, legte ich nervös auf. Mir gingen die Ideen aus. Also tat ich etwas extrem unprofessionelles: ich rief das Krankenhaus an. Dort teilte man mir mit, dass ich zu einem keine Berechtigung für solche Informationen hatte, zum anderen aber auch kein Notfall vorlag. Nachdem mich die Schwester noch einmal sehr ungehalten sagte, dass sie mehr zu tun hätte als Kindern zu plauschen und dann einfach auflegte, musste ich einsehen, dass meine Aktion hier keinen Sinn machte. Jedoch sagte mir der Blick auf die Uhr, dass es genauso wenig Sinn machte zurück in den Unterricht zu kehren. Mir blieb folglich nichts anderes zu tun als zu warten.

Um die Zeit zu überbrücken schrieb ich Tyler kurz zurück, dass ich sie nicht gefunden hatte und auch nichts erfahren hatte.

Fuck, hatte vergessen dir das zu sagen, dass sie wohl in Mathematik nur knapp bestanden hat. Sorry, wusste nicht, dass du deswegen gleich durchdrehst. Aber wenn du eh Zeit hast, dann kannst du ja schon mal Essen holen. See u later Alligator! <3 – Tyler

Stand auf Mord eigentlich noch die Todesstrafe und konnte man Leichen noch im Garten vergraben?