22. Kapitel (II)

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„Amber, wenn ich noch einmal auf einer deinen Puppen trete, schmeiße ich sie weg. Wie kann es sein, dass die hier überall verteilt liegen?" Mr. Hastings beugte sich verärgert auf den Boden und warf die Puppe achtlos in die Spielecke während er nach einer Steckdose für den Staubsauger suchte. Irgendwo musste sie doch sein! Ava hatte es schließlich auch geschafft alles zu saugen. Seine jüngste Tochter legte still ihre Puppe in die Kiste und lief schnell die Treppe hoch in ihr Zimmer. Resigniert sah er ihr nach; warum hatte er bloß das Gefühl zwei seiner Kinder verloren zu haben?

Seit Ava weggegangen war herrschte hier nur noch Chaos und er hatte sich längst eingestanden, dass er überfordert war mit der ganzen Situation. Letzte Woche war der Kühlschrank leer gewesen und am Montag fehlten plötzlich die Medikamente für Amber. Und was tat Dave um ihn zu unterstützen? Hauptsächlich sich mit seiner Hand vor der Arbeit drücken. Mr. Hastings seufzte ehe er sich hinsetzte. Er fuhr sich durch die Haare und dachte an Avalon.

Sie hatte es ernst gemeint, sie war gegangen. Einfach so. In dem einen Augenblick stand sie wutentbrannt vor ihm, im nächsten war sie mit Liam verschwunden. Sicher hatte sie alles Mr. Jefferson erzählt und Mr. Hastings machte sich Sorgen welches Licht das auf ihn warf. Auf der anderen Seite aber hielt er an seiner Meinung fest: sie hätte die Anzeige nicht zurückziehen dürfen und sie hätte mit ihm vorher darüber sprechen sollen! Immerhin hatte er sie betäubt und hätte weiß Gott was mit ihr anstellen können! Und Dave hatte wegen ihm auch noch die Hand gebrochen.

Es erfüllte ihn mit grimmiger Genugtuung wenn er darüber nachdachte, dass sein Sohn ihm den Kiefer gebrochen hatte. Wäre er da gewesen wäre der Junge sicher nicht so schnell davon gekommen. Elendiger, miese... - Es schellte.

Ächzend stand Mr. Hastings auf und ging schwerfällig u Tür. Wie konnte er sich nur so alt fühlen? Ava hätte sich sicher darüber lustig gemacht, ihn damit aufgezogen und er hätte gelacht, ihr gesagt dass sie erst einmal in sein Alter kommen sollte. Er lächelte traurig, denn so ungerne er sich es eingestand, so vermisste er sie. Ihren Sturkopf hatte sie von ihrer Mutter.

„Ich habe hier ein Einschreiben für Ava S. Hastings. Wenn Sie bitte einmal hier unterschreiben würden?" Der Postbote hielt ihm einen Zettel entgegen den er nachlässig unterzeichnete. Der bote dankte, reichte ihm ein dicken Umschlag und wünschte ihm noch einen schönen Tag. Mr. Hastings machte sich nicht die Mühe seinen Gruß zu erwidern sondern schloss die Tür wieder.

Ava S. Hastings. Er schmunzelte als er das S sah. Ava mochte ihren Zweitnamen nicht, benannt nach ihrer Mutter. Überall stellte sie sich nur mi ihrem ersten Namen vor und so gab es nur wenige, die ihren Zweitnamen kannten. Umso interessanter musterte er den Umschlag und erkannte, dass er von einer Kanzlei stammen musste. Der Umschlag landete bei den andren Briefen die an sie adressiert waren und die Amber ihr noch nicht in der Schule gegeben hatte.

Wann würde Ava zurück kommen? Falls sie wieder kommen würde, korrigierte er seinen Gedanken und nahm das Bild neben dem Stapel in die Hand. Seine Kinder grinsten ihn an, Ava damals erst 10, Dave 8 und Amber gerade 3 Jahre alt. Wie konnten seine kleinen so schnell groß werden? Es kam ihm vor als wäre es gestern gewesen als er ihnen noch Abends Märchen vorlas und unter Ava's Bett schauen musste weil da Monster sich versteckt haben könnten. Auf dem Bild war sie so alt wie Amber jetzt, trotzdem sah sie so viel älter als Amber aus. Denn auch wenn sie auf dem Bild lachte, sah er etwas was ihm vorher nie aufgefallen war: Ava hatte schon da angefangen sich zu kümmern. Sie trug Amber auf dem Arm; schwach erinnerte er sich daran, dass Ambrosia kurz zuvor gefallen war und ihr Arm lag um Dave weil er sich große Sorgen um seine kleine Schwester gemacht hatte. War er ein schlechter Vater? Dumme Frage, schalte er sich, welcher Vater ließ sich sonst seine Steuererklärung von einer 14 Jährigen schreiben?

Ah vielleicht war das der Steuerbescheid der noch fehlte. Er griff nach dem Umschlag und öffnete ihn kurzerhand. Immerhin war sie auch noch nicht Volljährig, rechtfertigte er sich in seinen Gedanken. Verwirrt musterte er die Anzahl an Papieren, denn normalerweise waren es höchstens drei Zettel.

Sehr geehrte Miss Hastings,

Sie erhalten nun die Verhandlungsergebnisse zur Kenntnisnahme, sowie den aufgesetzten Vertrag mit allen aufgeführten Bedingungen. (...)

Es folgten mehrere Gesetztestexte die er überflog. Sein Herz begann schneller zu schlagen bei den Wörtern die er überflog und hätte beinahe die Blätter zerknickt als der den Absatz über die vorher genannten Bedingungen erreichte.

(...) Die Geschädigte Miss Hastings verpflichtet sich die Anklage bezüglich des Medikamentenmissbrauchs, der versuchten Vergewaltigung, des Totschlages und der Körperverletzung zurückzuziehen und ferner jeglichen Rechtsanspruch abzutreten. Desweiteren verpflichtet sie sich über ein Stillschweigen in dieser Angelegenheit und dem Wissen, dass bei einem Bruch dieses Vertrages auch die Bedingungen unseres Mandanten nichtig werden. Ausnahmefall ist bei einer Vorladung als Zeugin in einem anderen Prozess bei gleichem oder ähnlichen Sachverhalt.

Unser Mandant verpflichtet sich im Gegenzug dazu, sich einer Entzugs- und Entwöhnungstherapie zu unterziehen, sowie regelmäßig, unangekündigten Drogenscreenings. Desweiteren ist sich mein Mandant bewusst, dass bei einer erneuten Tat Miss Hastings vor Gericht als Zeugin aussagen darf, wenn sie dazu aufgefordert wird. Der Mandant verpflichtet sich weiter dazu ehrenamtlich zu arbeiten, welche genau entscheidet der Mandant. Desweiteren verzichtet er auf jegliche Rechtsansprüche bezüglich der Anklage von Mr. Dave Hastings, Bruder der Geschädigten Miss Hastings, auf Grund der schweren Körperverletzung mit versuchten Todschlag.

Der Vertrag erhält seiner Gültigkeit durch die Unterschrift der beiden Parteien und wenn vorhanden ihren gesetzlichen Vertreter, beziehungsweise einem Vormund. (...)

Mr. Hastings las diesen Abschnitt viermal bis er zum ersten Mal den Inhalt verstehen konnte. Unbewusst steckte er die Papiere zurück in den Umschlag, ging zu dem Sessel und ließ sich fassungslos nieder. Natürlich hatte sie von einer Anklage abgesehen um Dave zu schützen. Natürlich. Wie konnte er das nicht kommen gesehen haben? Dave hatte dem Jungen den Kiefer gebrochen, wer hätte deswegen nicht geklagt? Er wollte sich gar nicht ausdenken was es für Dave bedeutet hätte verklagt und auch schuldig gesprochen zu werden. Selbstverständlich hatte Ava daran gedacht und natürlich würde sie alles tun was in ihrer Macht stand um Dave zu schützen. Den Bruder der gesagt hatte, dass sie nicht mehr seine Schwester sei, seiner Tochter die er indirekt vorgeworfen hatte selbst Schuld gewesen zu sein weil sie aus diesem Becher getrunken hatte.

Erst als seine Hand über seine Augen strich merkte er, dass er weinte und kaum hatte er es gemerkt, konnte er es nicht mehr aufhalten. Was hatte er bloß getan? Angewidert von sich selbst dachte er an alles was er ihr immer wieder an den Kopf geworfen hatte. Und sie hatte doch versucht mit ihm zu reden! Aber was hatte er getan? Er hatte sie angeschrien! Sein Herz zog sich zusammen und noch nie hatte er sich so schlecht wie in diesem Moment gefühlt.

Er hatte es kaputt gemacht, alles. Weil er nicht das getan hatte, warum sie ihn gebeten hatte; weil er nicht zugehört hatte. Und nun war sein Mädchen bei einer fremden Familie weil sie hier keine mehr hatte. Er hätte ihr zuhören müssen, hätte Verständnis für sie haben müssen, hätte ihr niemals das Gefühl geben sollen nicht mehr mit ihm reden zu können. Natürlich hatte sie das für Dave getan. So wie das 10 Jährige Mädchen was keine Geschenke zum Geburtstag wollte damit ihr kleiner Bruder ein Fahrrad kriegen konnte. Wie konnte er so blind gewesen sein?

Es tut mir Leid Ava, es tut mir so Leid.

Immer wieder wiederholte er diese Worte in seinem Kopf, nur um sich am Ende einzugestehen, dass es dafür zu spät war. 

ElysiumWhere stories live. Discover now