8.0: Die Familie Gibson

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8: Party-Time

Als ich blinzelnd die Augen öffnete, war mein Nacken steif und mein rechtes Bein schwebte gefährlich in der Luft. Mein Bett war aber auch ziemlich klein!

Langsam tastete ich den Stoff unter mir ab. Keine Matratze. Es fühlte sich eher wie eine Couch an. Louis', um genau zu sein. Ich musste gestern Abend wohl hier eingeschlafen sein, was auch erklärte, wieso ich noch die gleichen Sachen wie am Tag zuvor anhatte. Aber daran, dass ich mir eine Decke genommen hatte, konnte ich mich nicht erinnern - nun jedoch lag unverkennbar eine auf mir. Louis hatte sie wahrscheinlich dort platziert. Wie fürsorglich von ihm!

Das Sofa senkte sich ein wenig zur einen Seite hin und ich sah auf, um eben diesen jungen Mann mit einem heiteren Lächeln auf den Lippen zu erblicken.

"Morgen, Mia", sagte er freundlich und reichte mir etwas, was er vorher in seinen Händen getragen hatte und was ich als ein Marlmeladenbrot identifizierte.

"Danke", nuschelte ich benommen und auch ein wenig verwundert über die plötzliche zuvorkommende Freundlichkeit.

"Gute Nachrichten", grinste er dann triumphirend. "Simon hat der Aktion zugestimmt!"

Zwischen zwei Bissen stieß ich einen kleinen Freudenschrei aus, der meinen Hund dazu brachte, sich von seinem Schlafplatz auf dem Teppich zu erheben, zu mir zu trotten und seine Schnauze winselnd in meinen Arm zu drücken.

"Alles gut, mein Großer", beruhigte ich ihn sogleich und klopfte ihm sacht gegen die Seite.

"Das ist großartig!", rief ich dann aus.

Louis nickte zustimmend.

"Ich habe allerdings festgelegt, dass das Ganze erst nach der Party deiner Schwester stattfindet. Weniger Stress, weißt du?"

Als Antwort gab ich ein Nicken.

Er dagegen drehte sich ein wenig und legte seine Füße hoch, sodass wir nun nebeneinander auf der Couch lagen.

"Bevor ich dort allerdings erscheinen will und kann, musst du mir ein wenig von deiner Familie erzählen. Ich komme nicht gerne völlig unvorbereitet in eine Situation. Stell dir vor mir passiert ein Fauxpas!"

Ich musste bei dem Gedanken kichern.

"Siehst du?", meinte er mit einem schiefen Grinsen.

Ich holte einmal tief Luft, dann begann ich: "Also meine Eltern haben sich schon relativ früh getrennt. Da war ich sechs oder sieben. Mein Dad kommt aus einer Familie, die einen Bauernhof besitzt und als ältestes Kind der Familie ist er somit der Erbe. Früher haben wir dort zu dritt gelebt, Mum, Dad und ich. Aber nach der Scheidung ist Mum dann nach Oxford gezogen, die nächst größere Stadt dort, doch zunächst blieb ich bei Dad. Es sei einfacher für mich, mit der vertrauten Umgebung, wie sie meinten. Mittlerweile glaube ich jedoch, dass es eher daran gelegen hat, dass Mum zu diesem Zeitpunkt schon meinen jetzigen Stiefvater kennengelernt hat, Gareth. Sie wollte anscheinend lieber mit ihm zusammenziehen, als ihr kleines Kind am Bein zu haben ... wie auch immer. Von da an war ich jedes zweite Wochenende bei ihr. Vorerst hat Dad mich gefahren, später habe ich immer häufiger den Zug benutzt, weil ich bemerkt habe, wie sehr es seine alten Wunden aufreißt zu sehen, dass Mum mit ihrem neuen Freund glücklich war, während er immer noch an ihr hing."

"Weswegen haben sie sich denn getrennt?", unterbrach Louis mich in meiner Erzählung vorsichtig.

Ich schwieg einen Moment.

"Früher habe ich es natürlich noch nicht verstanden, es war einfach nur plötzlich anders. Heute aber meine ich die Gründe zu kennen. Mum fühlte sich zu sehr an den Hof gebunden. Sie ist Neurologin, ein Job, der relativ viel Zeit kostet und mit dem Leben auf dem Hof einfach nicht zu kombinieren ist. Sie hat damals nicht gearbeitet und war Hausfrau. Sie ist kaum jemals aus dem Dorf gekommen - das langte ihr irgendwann einfach. Und dann traf sie sich immer öfter mit fremden Leuten, blieb teilweise mehrere Tage lang außer Haus, ohne irgendjemandem Bescheid zu geben und lernte wie gesagt auch Gareth kennen, einen jungen, gut aussehenden Mann mit frechen Augen und einem charmanten Grinsen. Allerdings muss man sagen, dass nicht nur sie daran Schuld war. Auch mein Dad hat so einige Fehler begangen. Beispielsweise, dass er Mums Wehmut nach ein wenig Abwechslung einfach völlig ignoriert hat. Er ist auch nicht der Typ für sowas und mag es lieber, in seinem vertrauten Bereich zu bleiben, als irgendetwas Neues zu entdecken. Somit haben sie monatelang aneinander vorbei geredet, das konnte auf Dauer einfach nicht gutgehen."

"Ich verstehe", murmelte Louis betroffen.

"Jedenfalls", fuhr ich dann fort und atmete tief durch, "bekam Mum einen Sohn von ihrem Freund, als ich neun war und kurz darauf heiratete sie Gareth dann auch. Ein schrecklicher Tag für Dad, weil er eingeladen war. Ich habe ihn überredet, mit mir zu kommen und man sollte es Schicksal nennen, dass er genau auf dieser Hochzeit seine zukünftige Frau Monica kennenlernte. Sie war ebenfalls geschieden und hatte zwei Töchter, Olivia und Leah. Als ich elf war, zogen die drei bei uns auf dem Hof ein und seither sind sie fast wie leibliche Geschwister für mich. Mum sah nach Joshs Geburt ein, dass sie einen Fehler begangen hatte, indem sie mich so auf Abstand gehalten hat. Vielleicht hat Josh in ihr ja doch irgendwelche müttlerlichen Pflichtgefühle geweckt und vielleicht lag es vorher ja daran, dass sie mich mit 25 Jahren bekommen hatte - ich meine, das ist ein Jahr jünger als ich jetzt bin! Ich weiß jedenfalls, dass ich jetzt auf keinen Fall für ein Kind bereit wäre. Sie war damals vielleicht auch einfach noch nicht reif für ein Kind. Egal wie, jedenfalls habe ich seitdem bei beiden Elternteilen gewohnt, je eine Woche beim einen, dann eine Woche beim anderen. Das klingt vielleicht ein bisschen schnulzig, wenn ich das so sage, aber ... alle meine Geschwister sind zwar viel jünger als ich, trotzdem sind sie für mich wirkliche Geschwister, wenn man versteht, was ich damit sagen möchte, ganz egal, ob sie eigentlich Halb- oder Stiefgeschwister sind. Mit Gareth und Monica verstehe ich mich ebenfalls ganz gut und meine Eltern können sich mittlerweile wenigstens auch wieder miteinander unterhalten, ohne, dass die Fetzen fliegen. Bei meinem letzten Geburtstag haben sie sich sogar dazu aufgerafft, beide zu kommen! Aber das Verhältnis von Leah zu ihrem leiblichen Vater ist nicht sonderlich gut. Also sprich sie lieber nicht auf ihn an."

Ich atmete einmal tief durch und rang mir ein Lächeln ab. Obwohl es bei meiner Familie im Vergleich zu vielen anderen fast schon ein 'Happy End' gab, hasste ich es, darüber zu reden.

"So. Jetzt weißt du alles."

Er strich mir sanft über die Schulter.

"Glaub mir, ich weiß wie schlimm es sein kann, wenn sich Eltern trennen. Vor allem, wie es ist, wenn einer von beiden das Kind eigentlich nicht will. Aber sei froh, dass deine Mutter doch noch zur Besinnung gekommen ist."

"Glaub mir, das bin ich", murmelte ich.

Schutzengel || l.t. ✓Where stories live. Discover now