9.3: Schlosspark Gibson

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"Louis", sagte ich streng, "jetzt nimm mir gefälligst die scheiß Augenbinde ab!"

Er lachte nur. Na danke auch! Langsam fühlte ich mich wirklich dumm. Wieso hatte er mir denn verdammt noch mal die Augen verbinden müssen, bevor wir losgefahren waren?!

Die Autotür hatte sich in der Zeit einmal geöffnet und wieder geschlossen. War er jetzt etwa ausgestiegen und hatte mich alleine hier zurückgelassen?

Meine Hände fuhren zu meinem Hinterkopf, wo ich nach dem Knoten tastete, der den Schal - oder was auch immer es war, was mir die Sicht versperrte - an seinem Platz hielt. Warum konnte Louis so feste Knoten machen?!

In diesem Moment spürte ich einen sanften Luftzug, der mir verriet, dass die Autotür sich erneut geöffnet hatte, dieses Mal allerdings auf meiner Seite.

"Na, na!", tadelte mich die raue Stimme des Sängers, "Schön dranlassen!"

Ertappt ließ ich die Hände sinken und biss mir betreten auf die Unterlippe, obwohl ich eigentlich mein gutes Recht dazu hatte, wieder etwas sehen zu wollen.

Für einige Herzschläge bemerkte ich seine Anwesenheit in meiner unmittelbaren Nähe, was ein sanftes Kribbeln in mir auslöste, denn er überprüfte den Sitz des Tuches und zog den Knoten ein wenig fester, bevor er mich vorsichtig abschnallte und meine Hände in seine nahm, vermutlich, damit ich keinen weiteren Befreiungsversuch starten konnte.

"Aussteigen, Madame", meinte er zuvorkommend und zog sacht an meinen Händen, um mir die Richtung zu weisen. Keine sehr gelungene Aktion, wie ich feststellen musste, als ich die Beine unsicher auf den Boden stellte, mich versuchte aufzurichten und volle Pulle mit dem Kopf gegen etwas, was vermutlich das Auto war, knallte.

"Au", machte ich lediglich, obwohl mir der Schädel ein wenig dröhnte.

"Sorry", entschuldigte er sich sogleich, ließ meine linke Hand los und drückte meinen Kopf vorsichtig ein wenig nach unten, woraufhin er mich nach vorne zog und mich so aus der Gefahrenzone manövrierte.

Die Tür wurde hinter mir geschlossen und nach einigen Metern wies mich sein 'Achtung, Stufe' auf eine Treppe in unmittelbarer Nähe hin. Wir befanden uns immer noch im Freien, deshalb war ich ein wenig verwundert, und in einer größeren Stadt konnten wir uns auch nicht aufhalten, denn weit und breit war kein Verkehr zu hören. Lediglich ein sanfter Blumengeruch umhüllte mich und ließ mich vermuten, dass die freie Natur nicht fern sein konnte.

Wo wir uns wohl befanden? In einem kleinen Park? Ein Schlossgarten?

"Moment, ich muss eben die Tür aufschließen", riss mich Louis' Stimme aus den Gedanken.

Warte, Tür? Aufschließen? Das passte jetzt aber so gar nicht in meine Vorstellungen.

Treppe, Tür, Blumen, wenig Verkehr. Ich begann etwas zu ahnen.

"Louis", murmelte ich, "sag mir bitte nicht, dass wir in meinem Vorgarten stehen."

Ruckartig wandte er sich um und überprüfte erneut meine Augenbinde, was meine These nur noch mehr bestätigte. Als er sich sicher war, dass ich nichts gesehen haben konnte, erwiderte er geheimnisvoll: "Wer weiß?"

Okay, wir befanden uns ganz eindeutig in meinem Vorgarten. Ein schöner Schlosspark!

Schnell führte er mich weiter. Die Tür fiel ins Schloss, wir befanden uns scheinbar im Inneren des Gebäudes - höchstwahrscheinlich meines Hauses.

"Louis", meinte ich und schnupperte, "ich weiß, dass wir bei mir sind! Ich rieche doch noch das angebrannte Rührei von heute Morgen!"

Ach ja ... bei meinem Versuch, mir etwas Anspruchsvolleres als Cornflakes zum Frühstück zu kredenzen, war ich kläglich gescheitert. Keine Ahnung, was ich dieses Mal wieder falsch gemacht hatte - wahrscheinlich aber hatte ich das Ei zu lange in der Pfanne gelassen.

"Stimmt doch gar nicht!", schmollte er beleidigt und klang dabei wie ein kleines Kind.

"Louis", sagte ich zum dritten Mal, sehr langsam und deutlich, damit er es auch wirklich verstand, "man kann einen Geruch nicht durch eine Aussage verschwinden lassen."

Er grummelte etwas Unverständliches und schob mich, etwas grober als davor, da er wahrscheinlich beleidigt war, weiter.

"Warum kannst du auch nicht kochen?!"

Ich zuckte lediglich mit den Achseln. Das fragte ich mich selbst auch manchmal, denn es war eigentlich ziemlich angenehm, wenn man sich mal etwas Warmes machen konnte. Zum Glück hatte ich wenigstens eine Mikrowelle!

Doch in meinen Gedanken wurde ich unterbrochen, weil Louis vorsichtig den Knoten des Tuches löste.

Blinzelnd sah ich in das Licht, an das sich meine Augen noch nicht gewöhnt hatten.

"Und was ist jetzt so bes..."

Mitten im Satz brach ich ab und starrte in die linke hintere Ecke meines Wohnzimmers. Ein weißer Flügel schmückte den Raum nun und ich starrte ungläubig darauf. Sogar ein Strauß mit frischen orange-weißen Rosen lag darauf!

Ungläubig drehte ich mich zu ihm um.

"Nicht dein Ernst", brachte ich nur heraus und sah wieder zurück auf das teure Musikinstrument.

"Ich hatte es dir versprochen", gab er etwas verlegen zurück.

"Ja, aber ...", stotterte ich, "Du hättest doch nicht ..."

Er unterbrach mich: "Ich wollte zuerst dein altes Klavier hierher bringen lassen, aber wie zum Teufel hast du das in deine Wohnung bekommen?! Jedenfalls habe ich mir gedacht, dass es wahrscheinlich kaputt geht, wenn man es versucht von seinem Platz zu bewegen und mich nach einer Alternative umgesehen."

Ohne eine wirkliche Vorstellung zu haben, was ich sagen sollte, öffnete ich meinen Mund. Ich hatte mein Klavier vermisst, denn ich liebte es, Musik zu machen und mit einem so teuren Geschenk hatte ich lange nicht gerechnet!

"Danke", stotterte ich schließlich, "ich ... also ..."

"Nicht der Rede wert", winkte er sofort ab.

Meine Augen weiteten sich.

"Nicht der Rede wert?! Das ist ein Flügel, ein fucking Flügel! Weißt du, wie teuer der ist?"

Ja, wahrscheinlich schon, er hatte mir das Ding schließlich gekauft.

"Deshalb musste ich heute also mit Harry mit!", ging mir ein Licht auf.

"Genau", bestätigte er, "irgendwie musste ich den Transport ja organisieren können. Karly ist übrigens in deinem Schlafzimmer eingesperrt, bei den ganzen Fremden im Haus hat er ein bisschen getobt."

Mit einem Nicken nahm ich diese Information zur Kenntnis, liebkoste das wertvolle Instrument eine Sekunde lang mit meinem Blick und fiel Louis dann ohne Vorwarnung in die Arme.

"Danke", flüsterte ich. "Danke, danke, danke!"

Schutzengel || l.t. ✓Where stories live. Discover now