Kapitel 11

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Die nächsten Tage fühlen sich fremd an. Inzwischen weiß sogar die Presse was geschehen ist und das macht Erich sichtlich zu schaffen. Heute ist Freitag und trotz der momentanen Situation läuft alles, was die Entwicklungsabteilung betrifft, recht normal. Es ist kurz vor dem Mittagessen und mein Chef hat mich gebeten, diese neuen Pläne zu Gus und Ivana zu bringen. Kaum betrete ich die riesige Halle, taucht Augustus neben mir auf.
"Da hast du aber echt eine Menge dabei. Ich hab doch gesagt, dass Erich in Krisensituationen immer am Kreativsten ist, aber wolltet ihr auf mich hören? Natürlich nicht. Anstatt mal irgendeiner auf mich hört!"
Ich lache und übergebe ihm die Pläne.
"Hör auf zu jammern, das macht dich unglaublich unattraktiv."
"Ach? Und sonst bin ich attraktiv für dich?"
"Geben Kühe Milch?"
Darauf lächelt er nur leicht und als ich mich abwenden will, um wieder zu Erichs Büro zu gehen, schaut er plötzlich schuldbewusst drein.
"Was ist denn los?"
"Ich fürchte, ich kann heute nicht mit dir zum Mittagessen gehen... Ich will den Prototypen der neuen Brille noch fertig bekommen. Es tut mir leid, Court..."
Er sieht so traurig dabei aus, dass ich gar nicht anders kann, als ihm einen Kuss auf die Wange zu geben.
"Ist schon gut, Gus, ehrlich. Ich wäre trauriger gewesen, wenn du unsere morgige Verabredung abgesagt hättest."
Sein Gesichtsausdruck hellt sich auf.
"Auf diese Idee würde ich niemals kommen, dann wäre ich ja komplett bescheuert! Ich freue mich übrigens sehr auf morgen."
Er lächelt mich an. Es ist sein besonderes Lächeln, das ehrlich und liebevoll zugleich ist.
Ich werde ein wenig rot im Gesicht und mein Herz klopft viel zu schnell. Wie kann Augustus Jackson mich nur so aus dem Konzept bringen?
"Ach übrigens, ich glaube, dass du mit Erich in die Mensa gehen solltest, er kann es gebrauchen. Ein wenig Normalität wird ihm gut tun. Wir sehen uns spätestens, wenn du Schluss hast. Ich fahre dich dann nach Hause und keine Widerrede", fügt er noch schnell hinzu, bevor ich meinen Protest aussprechen kann.

Ich klopfe an der Tür und warte auf eine Antwort, doch alles was ich höre, ist ein Schluchzen. Natürlich gehe ich jetzt sofort in sein Büro und alles was ich sehen kann, ist ein Erich, der mit aufgeschrammten Händen auf dem Boden sitzt, wo nebenbei bemerkt ganz viele Zeitungen verstreut liegen. Ich hocke mich wortlos vor ihn hin, nehme ihm erst alle zerknüllten Zeitungen aus der Hand und nehme dann sein Gesicht ganz vorsichtig in die Hände. Anders weiß ich ihn einfach nicht zu beruhigen. Er sieht so verzweifelt und hilflos aus, dass es einem das Herz in der Brust zerreißen könnte.
"Erich, es wird alles wieder gut. Das verspreche ich dir."
"Court... Tut mir leid... Ich wollte nicht, dass du mich so siehst..."
Ich lächle ihn an.
"Auch ein Erich Maxwell Blunt kann mal Gefühle zeigen, daran ist echt nichts verboten."
Er versucht zu lächeln, aber es misslingt ihm.
"Diese Leute lassen mich einfach nicht in Ruhe. Die Presse zerreißt sich die Münder über die Firma und mich, dabei ist noch nicht mal klar, ob es sich bei...", er stoppt und schluckt kurz, "Ob es sich bei Cindy überhaupt um Mord handelt, meine Güte nochmal!"
Mir fällt auf, dass ich Erich das erste Mal tatsächlich so gebrochen erlebe, ich wusste gar nicht, dass das möglich ist. Ich streiche ihm vorsichtig eine Träne weg, die ihm gerade über die Wange läuft, stehe auf und halte ihm die Hand hin. Er schaut mich fragend an und ich grinse.
"Na komm, Blunt, es wird Zeit, dass du dich mal auf etwas anderes konzentrierst. Wir gehen jetzt was essen, komm schon."
Nach kurzem Zögern nimmt er meine Hand und lässt sich von mir hoch helfen.

"Ladies first."
Erich hält mir mit einer Verbeugung die Tür zu dem chinesischen Restaurant auf, in dem ich mit Gus an meinem ersten Arbeitstag gewesen bin. Ich habe es vorgeschlagen, da es ihm meiner Meinung nach nicht gut tun würde, wenn er sich mitten ins Getümmel seiner Angestellten stürzt, die ihm dann wieder komische Fragen zum Fall Cindy stellen würden.
"Wie ich bemerke, arbeite ich ja ausschließlich mit Gentlemen. Ich bin begeistert. Ist das ein gewisser Vorzug bei APPLSN?"
"Natürlich ist es das! Ich lasse meine männlichen Angestellten immer einen Test im Umgang mit ihren weiblichen Kollegen machen, bevor ich mich dazu entschließe, sie einzustellen!"
Wir müssen beide lachen.
"Sie sind sehr wählerisch, Mr Blunt."
"Und das nur zu Ihrem Besten, Miss Hunter."
Wir setzen uns an einen freien Tisch und Erich schaut sich um.
"Ich war echt ewig nicht mehr hier, das ist traurig. Zu Gründerzeiten der Firma bin ich fast jeden Tag mit Gus, Ivana und Jeremy hier gewesen..."
Er stockt, räuspert sich, wird leicht rot und kratzt sich verlegen am Hinterkopf.
"Was ist damals passiert?"
Erich sieht mich für einen Moment an. Seine Augen finden meine. Blaugrau trifft auf Braun. Es ist als würde er mich scannen, versuchen in meine Seele zu schauen.
"Gus hat es dir wirklich noch nicht erzählt?", fragt er nach einer gefühlten Minute und löst seinen Blick nicht von mir.
Ich schüttle mit dem Kopf.
"Nein, zumindest nicht ausführlich. Er sagte, wenn er es mir erzähle, würdest du ihn höchstwahrscheinlich mit Haut und Haaren auffressen."
Erich lacht leise.
"Oh Gus hatte schon immer eine Vorliebe für übertriebene Dramatik. Kein Wunder, dass er den Schauspielkurs am College als Jahrgangsbester abgeschlossen hat."
Ich starre ihn an meinen Chef an.
"Wie bitte?"
Ich muss wie eine ungläubige Idiotin aussehen, denn Erichs Schultern zucken vor Lachen.
"Denkst du denn wirklich, dass wir, nur weil man uns als Nerds und Genies abstempelt, keine anderen Interessen außer IT haben?"
Als mir die Röte ins Gesicht schießt, muss Erich noch mehr lachen. Es ist wieder dieses ehrliche Lachen, das er so selten zeigt.
"Ja, wir haben meist noch andere Schwerpunkte für die wir brennen. Gus liebt Schauspiel und Iva brennt für Mode. Schwer zu glauben, oder?"
Allerdings.
"Und du? Was ist mit dir? Gibt es bei dir eine Sache, die ich erfahren sollte, Erich? Außer das Talent deine weiblichen Angestellten rumzukriegen?"
Wieder kratzt er sich verlegen am Hinterkopf.
"Wehe du lachst."
"Ich werde nicht lachen, versprochen."
Für einen Moment scannt sein Blick mich erneut.
"Ich singe gern... Und ich spiele sehr gern Gitarre..."
Ich grinse ihn an.
"Siehst du, du machst dich über mich lustig, Court."
"Aber nein. Ich finde das wirklich toll. Ehrlich. Spielst du mir dann auch mal was vor?"
Er grinst ebenfalls und hat ein gefährliches Funkeln in den Augen.
"Klar, aber nur unter einer Bedingung."
"Und welche wäre das?"
"Ich möchte, dass du mir eine deiner Kurzgeschichten zeigst."
Wieder starre ich ihn an.
"Woher... Woher weißt du das?"
"Er sieht zwar nicht so aus, aber Gus kann ziemlich viel reden, wenn er will."
Augustus. Natürlich. Aber warum redet er mit Erich über mich? Ich beschließe diese Frage ein anderes Mal zu beantworten.
Erichs Blick wird wieder ernst.
"Spaß beiseite. Du hattest ja gefragt, wie das zwischen mir und Lennard zum Bruch gekommen ist."
Dann hat er mir die Geschichte erzählt: Dass er und Jeremy sich beim Studium kennengelernt hätten und beide den Traum einer eigenen Firma gehabt hätten. Dass sie sich durchboxen mussten, um ernst genommen zu werden. Dass Erich eines Tages die Idee für den Code kam, der die Basis für das Innenleben der Produkte der Firma darstellt und sein früherer Geschäftspartner bis heute behauptet, es wäre seine Idee gewesen und er deshalb die Firmenanteile wolle. Dass schließlich alles in einem heute noch existierenden Rechtsstreit geendet hat.
All das erzählt Erich unfassbar ruhig. Wäre ich nicht selbst dabei gewesen, hätte ich nicht geglaubt, dass er Probleme mit Aggressionen hat.

Um Punkt fünf Uhr klopft es an Erichs Bürotür.
"Ich geh schon, Court, dann kannst du noch die letzte Abrechnung abheften", meint Erich lächelnd und steht von seinem Entwurfstisch auf.
Ich habe das Gefühl, ihn beim Mittagessen viel besser kennengelernt zu haben und das finde ich sehr gut. Das macht die Zusammenarbeit mit ihm noch um einiges spannender.
"Miss Hunter, Ihr Chauffeur ist da."
Ich grinse und packe meine Sachen zusammen, bevor ich neben Gus trete, der sich an die Wand gelehnt hat.
"Hey du. Ich hoffe, du bist mir wirklich nicht allzu böse, dass ich es heute nicht zum gemeinsamen Mittagessen geschafft habe."
"Ach Augustus, mach dir nicht so einen Kopf. Ich war mit Erich in diesem chinesischen Restaurant, das du mir gezeigt hast. Es ließ sich tatsächlich gut mit ihm aushalten."
Erich grinst.
"Ja, Madame Perfektion ist doch nicht so anstrengend wie ich dachte."
Ich stecke ihm die Zunge raus und er umarmt mich zum Abschied. Es tut gut zu sehen, dass er deutlich besser drauf ist als heute Vormittag.
"Echt? Das freut mich. Ich werde mich ja morgen Abend selbst davon überzeugen können."
Gus lächelt und reicht mir meine Jeansjacke. Erich hebt eine Augenbraue.
"Morgen Abend? Wieso? Schmeißt Ivana wieder eine 'Wir lästern über Erich'-Party?"
Für einen Moment muss ich überlegen, doch dann wird mir klar, dass er einen Witz gemacht hat. Naja, zumindest hoffe ich das.
"Oh nein. Court und ich unternehmen morgen Abend nur etwas zusammen. Na komm", sagt Gus dann an mich gewandt, "der Stau in San Fran hört nie auf."
Ich nicke und schaue noch einmal lächelnd zu Erich, der mir tief in die Augen sieht und leicht gequält drein schaut.
Bis heute frage ich mich wie ich diesen Blick damals nicht habe deuten können.

Frohe Ostern, Cookies! ❤
Bei so vielen Updates in letzter Zeit blühe ja echt zur Höchstform auf :)
Was sagt ihr zu diesem Kapitel?
Was sagt ihr zu Erich und Gus?
Habt ihr Vermutungen für den weiteren Verlauf der Geschichte?
Ich freue mich schon auf euer Feedback ;)
Read you next time ;*
Momofelton ❤

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