Kapitel 21

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Mir ist klar, dass die Leute sagen würden, ich wäre in ihn verliebt. Welche Frau würde schließlich um halb drei morgens in einer öffentlichen Straßenbahn sitzen, um zu einem jungen Mann zu kommen?
Glaubt mir, wenn dieser Mann mit Alkohol und anderen Dingen zugedröhnt ist, weil er dem Druck seiner momentanen Lebenssituation nicht standhält, würdet ihr es vermutlich genauso machen. Mir hat ein Satz von ihm am Telefon gereicht, schon habe ich gewusst, dass er vollkommen high gewesen ist, als er mich angerufen hat. Was hättet ihr getan? Hättet ihr euch wieder hingelegt und einen guten Freund von euch in seiner Wohnung gelassen, obwohl ihr wüsstet, dass es ihm unbeschreiblich schlecht geht und er sich deshalb mit Drogen die Birne wegknallt? Wohl kaum.
Also habe ich mir sofort mein Zeug geschnappt, habe mich angezogen und sitze nun in der Straßenbahn, um zu meinem Chef zu gelangen. Ich habe bereits versucht, Gus zu erreichen, aber aus irgendeinem Grund ist sein Handy aus. Vermutlich ist er immer noch bockig, weil ich den Kuss gestern so plötzlich abgebrochen habe. In ein paar Minuten würde ich bei Erich sein und dann würde wieder alles in Ordnung sein. Ich möchte gar nicht wissen, wie er sich gerade fühlen muss. So allein, so verloren und so einsam auf dieser riesigen Welt.
In meinem Abteil sitzen ein paar Leute, die gelangweilt aus dem Fenster starren.
Wisst ihr was das Traurige an den Menschen und dieser Gesellschaft ist?
Sie sehen die Schönheit des Lebens fast so gut wie nie und wollen immer mehr von Dingen, die sie nicht haben können. Das ist einfach nur deprimierend. Die Menschen versinken in Selbstmitleid, aber trauen sich nie, etwas daran zu ändern, weil es ja Arbeit erfordern würde.
Mein Blick fällt auf eine junge Frau, die nicht wirklich viel älter sein dürfte als ich. Ihre Augen verraten Schmerz. Ich lächle sie an, in der Hoffnung, dass sie mein Lächeln erwidern würde, doch das tut sie nicht. Noch so ein junger Mensch, der das Leben aufzugeben scheint, bevor es überhaupt angefangen hat.

Kaum stoppt die Bahn, nehme ich zwei Schritte auf einmal. Ich habe keine Ahnung, wie es gerade um Erich steht, wie ich ihn vorfinden würde.
Endlich biege ich in seine Straße ein und komme schlitternd vor seiner Haustür zum Stehen. Erich hat mir gegenüber einmal erwähnt, dass er einen Zweitschlüssel unter der Fußmatte versteckt hat, den ich auch sofort finde. Ich schließe auf und betrete ein dunkles Apartment. Wo mag er wohl sein?
"Erich? Ich bin's Courtney. Ich bin so schnell gekommen, wie ich konnte und-"
Mir bleiben die Worte im Halse stecken, als ich einen Fuß in sein Wohnzimmer setze. Erich kauert mitten auf dem Boden und um ihn herum liegen Tabletten verstreut. Eine Flasche Champagner steht auf dem Couchtisch.
"Oh Erich...", hauche ich leise und setze mich neben ihn.
Für eine Weile hält er den Blick gesenkt und da ich sicher bin, dass er sich erst einmal nicht weiter bewegen wird, beginne ich damit, die Unordnung in seinem Wohnzimmer aufzuräumen. Schnell stoße ich auf kleine Pillen in verschiedenen Farben mit Motiven drauf und ich weiß sofort, dass Erich sich unter anderem Ecstasy eingeworfen haben muss. Ich finde noch einige Beruhigungstabletten und frage mich, wie dieser Mann, der ein paar Meter von mir entfernt auf dem Boden sitzt, überhaupt noch am Leben sein kann.
"Court? Bist du das?"
Ich drehe mich um und sehe in Erichs Gesicht. Bei allem, was passiert ist, seitdem ich für ihn arbeite, habe ich ihn noch nie so verloren und planlos erlebt wie jetzt.
"Erich Maxwell Blunt, du bist so ein verdammter Idiot!", schreie ich ihn an und muss die Tränen zurückhalten, was mir allerdings misslingt, als mein Chef aufsteht und schwankend zu mir kommt, um mir eine Strähne hinters Ohr zu streichen.
"Du bist wirklich hergekommen. Ich dachte, du würdest mich hier sterben lassen."
"Zum Teufel mit dem, was du denkst! Wie kannst du das nur machen? Was ist, wenn ich nicht gekommen wäre? Gott Erich, du hast keinen Grund!"
Ich weiß, dass es nichts bringt, ihn anzuschreien, schließlich merkt er es kaum und wird sich in ein paar Stunden nicht mehr daran erinnern können, aber ich muss meiner Wut Luft machen.
"Du bist wütend", stellt er trocken fest und ich schüttele ungläubig mit dem Kopf.
"Erich, warum hast du das gemacht? Ich verstehe das nicht."
Er schwankt so heftig, dass ich mir seinen Arm schnappe und es irgendwie schaffe, ihn auf die Couch zu bekommen.
"Ich wollte mich umbringen, aber dann bin ich müde geworden... Und ich dachte mir, dass du vielleicht bei mir schlafen willst."
Ich kann ihn nur anstarren.
"Verdammt nochmal, du hast keinen Grund dafür, Selbstmord zu begehen. Ich verspreche dir, dass wir alles in den Griff bekommen, aber das geht nur, wenn du dich endlich zusammenreißt, Erich. Ich weiß, dass das alles gerade echt viel für dich ist und dass man davon ausgeht, du hättest Cindy umgebracht, aber weißt du was? Es ist schwach, wenn du aufgibst. Du bist nicht schwach, wann siehst du das endlich ein?"
Er starrt ausdruckslos an die gegenüberliegende Wand.
"Warum bist du dir so sicher darin, dass nicht ich Cindy umgebracht habe?"
Meine Antwort kommt schneller, als ich es erwartet habe: "Ich vertraue dir, deshalb glaube ich es nicht. Du hast gesagt, dass du es nicht warst, also glaube ich es auch."
Dann lächelt er.
"Du bist so ein wunderbarer Mensch, weißt du das eigentlich? So nett, so süß, unfassbar hübsch und intelligent. Dementsprechend auch schwer zu erreichen... Glaubst du wirklich, Gus könnte dich glücklicher machen als ich es kann, Court?"
Plötzlich landet sein Kopf auf meinem Schoß und ehe ich weiß, was passiert ist, ist er eingeschlafen. Vollkommen perplex und nicht wissend, warum ich es tue, fahre ich mit den Fingern durch sein dunkelblondes Haar. Meine Haut kribbelt ein wenig und ich muss lächeln, als ihm ein entspanntes Seufzen entfährt.
Was mache ich hier? Wieso bin ich hergekommen?
Die meisten Menschen würden sagen, dass ich mich in meinen Chef verliebt hätte, aber das kann und werde ich nicht zulassen! Dieser Mann würde mich sonst noch um den Verstand bringen!

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