11. Wir können noch viel schlimmer

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[M.]

Nervös trommle ich mit den Fingern aufs Lenkrad – die gesamte Autofahrt lang hab ich mir zurechtgelegt, was ich sagen möchte. Hab dafür sogar das Navigationssystem und Radio stumm geschaltet.

Vor meinem Parkplatz ist ein Bürokomplex zu sehen, der nicht unbedingt hoch ist, dafür aber in die Breite gebaut wurde. Maries Instagram-Profil hat verraten, dass sie hier ihre Ausbildung macht und außerdem gezeigt, dass sie eine kleine Kurvige mit glatten braunen Haaren ist, die gerne Urlaub im Schwarzwald macht. Niemand macht gerne Urlaub im Schwarzwald. Da sieht's schließlich genauso aus wie hier.

Marie scheint artig um siebzehn Uhr Feierabend zu haben, ebenfalls zu entnehmen aus ihrem Instagram-Profil – die sollte mal aufpassen, was die da postet.

Sie läuft gerade durch die Drehtür des Gebäudes und auf ihr Auto zu, als ich aussteige und ihr entgegen gehe.

„Marie Van Lorenz?", frage ich dümmlich.

„Das bin ich", kommt es von ihr schüchtern zurück. War sie schon immer schüchtern oder ist sie es erst am Samstag geworden? „Wer bist du?", fragt sie vorsichtig.

„M."

„Kennen wir uns?"

„Nein." Ich presse die Lippen aufeinander. „Aber ich weiß, was dir Samstag passiert ist."

Sie sieht beschämt zur Seite und in mir steigt der Verdacht auf, dass O. es runtergespielt hat und die Wahrheit schlimmer ist. Da war bestimmt mehr als ein bisschen forsch sein. Vielleicht hat sie geschrien, geblutet oder war einfach ganz still – hat es über sich ergehen lassen. Jetzt sind die Innenseiten ihrer Oberschenkel bestimmt mit Hämatomen übersäht, und jeder Schritt muss schmerzen.

„Ich weiß nicht, was du meinst", streitet sie ab. Es ist ihr unangenehm.

„Weißt du nicht?", frage ich eindringlich nach und sehe sie direkt an.

Ihre Augen werden glasig. „Nein, weiß ich nicht", flüstert sie. Die Angst kommt auf. „Ich habe einen Freund, einen Job und mein Leben ist wirklich toll." Die erste Träne läuft ihre Wange hinab.

„Willst du, dass es toll bleibt?", unterbreche ich ihren Anflug von Selbstmitleid.

„Natürlich." Sie wischt den Tropfen weg und versucht, mir in die Augen zu sehen.

„Gut, das will ich nämlich auch." Ich lächle.

„Du bist ein Freund von ihm, oder?"

„Ja." Ich lächle immer noch, während in ihrer Mimik der Ekel einzieht. „Und bin dafür, dass du das Ganze für dich behältst." Ich mache einen Schritt auf sie zu, sehe zu ihr herab und erneut direkt in ihre Augen. „Sonst wird dein Leben nicht mehr so toll sein."

Sie schluckt schwer.

„Ich weiß, was er getan hat", flüstert sie.

Ich schmunzle. „Das ist gut. Vergiss es nicht, Kleines." Ich will an ihr vorbeigehen, bleibe aber neben ihr noch kurz stehen. „Wir können auch noch viel schlimmer sein", flüstere ich ihr ins Ohr. Ich kann sehen, wie sie wieder beginnt, zu zittern und dann zu wimmern.

Zeit, zu gehen.

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