28. Der Wahnsinn nimmt zu

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[J.]

„Wie geht es Ihnen?", fragt er mich mein Psychiater am nächsten Dienstag und mir fällt es schwer, eine Antwort zu finden.

„Gut."

„Ja?"

Nein.

„Ja."

Er notiert sich etwas. „Sie können ruhig ehrlich sein."

„Heute war ein Brief von der Polizei in der Post. Zur Vorladung." Ich bin ruhig ehrlich.

„Weshalb?"

Sie haben die Leiche gefunden.

„Ich weiß nicht. Das steht da nicht." Ich bin ruhig unehrlich.

Mein Psychiater zupft sich am Schnauzer. „Sie können mit mir darüber reden, J.. Vielleicht kann ich Ihnen sogar helfen."

„Können Sie nicht."

Er brummt verständnisvoll, als würde er jetzt genau wissen, was zu tun ist. Weiß er nicht.

„Ist es dasselbe wie, als Sie jung waren?"

Ich zucke mit den Schultern. Vielleicht – vielleicht auch nicht?

Eigentlich nicht.

Als wir siebzehn oder achtzehn waren, angefangen haben zu spielen, haben wir viele Dinge fürs Adrenalin getan. Haben Autos angezündet, uns geprügelt, verzweifelt ein Ventil gesucht, um all unsere Probleme gemeinsam zu lösen.

Wenigstens für ein paar Stunden aufzulösen.

Wenn man mal ein Auto angezündet hat, die Hitze auf der Haut spürt und die Flammen die Augen blenden, dann verschwinden die Sorgen und Ängste nicht – sie werden nur unwichtig. Alles wird unwichtig, wenn man die lodernden Flammen sieht, wie sie unruhig in den Himmel hinauf wanken und man diese Genugtuung verspürt, dass es jetzt nicht nur einem selbst schlecht gehen wird.

Dass am nächsten Morgen jemand verzweifelt sein abgebranntes Auto sehen wird und dann die bitterliche Angst hat, die man selbst mit sich herumträgt.

Als würde man sie weitergeben.

Wer hat noch nicht? Wer will nochmal?

Nur zu! Kommen Sie näher – wir lösen nicht Ihre Probleme – wir zeigen Ihnen nur dass es etwas Größeres gibt.

Jeder von uns hat sein eigenes Trauma zu bewältigen.

F. hat sich selbst die Schuld daran gegeben, dass Robin den Mann an der Bushaltestelle abgestochen hat.

Er hat uns gezeigt, wie sich das Adrenalin anfühlt. Wie es ist, wenn dein Herz unaufhörlich laut pocht und du nicht spüren kannst, wie deine aufgeschürften Knöchel brennen, weil du siehst, wie dein Gegenüber auf dem Boden seinen blutigen Zahn ausspuckt, ihm das Rot über die Lippe und das Kinn tropft.

Und dann schlägt er zurück.

Und alles pocht.

Nur deine Probleme nicht.

M.s Leben war eine langweilige Odyssee an Perfektion. Angefangen bei seiner Freundin, über seine noch viel perfektere Familie, bis hin zu seiner aufstrebenden Fußball-Karriere.

Er brauchte uns.

Er brauchte es, dass wir ihm sein verfickt perfektes Leben ruinierten, damit er es nicht leben musste.

Wir waren es, die ihm in meinem Keller sein Knie mit einem Hammer zertrümmerten, damit er nicht mehr spielen musste. Zittrig hat jeder von uns einmal den alten oft benutzten Hammer aus der Werkstatt meines Vaters in der Hand gehabt, hat ihn mit voller Wucht gegen M.s linkes Knie geschlagen.

M. hat vor Schmerz gebrüllt, geblutet, war im Krankenhaus, hätte fast nie wieder laufen können.

Wir machten ihn unperfekt, weil er das wollte.

Weil er das brauchte.

O. war jemand, der in der Masse verschwand.

Wir haben ihn zu dem Kerl gemacht, der Mädchen auf Partys Rohypnol in den Drink kippt und dann seinen Schwanz in sie reinrammt, während sie sich benommen gegen das Waschbecken der Toilette stützen. Dann lässt er sie einfach dort zurück, mit Spermaresten in ihrem Ausschnitt.

Manchmal sind sie ohnmächtig.

Manchmal nicht.

Wir fragen nicht.

„J?" Mein Psychiater sieht besorgt aus. „Ist es wie damals?"

Ob wir mit Marie zu weit gegangen sind?

Es war nicht das erste Mal, dass wir zu weit gingen, dass es eine Leiche gab. Nur hatte sie sich nicht wie Ronja selbst das Leben genommen.

F. hat sie umgebracht.

Wir haben ihre Leiche verscharrt.

„Damals", wiederhole ich gedankenverloren.

Damals, als wir diese eine böse Sache mit Ronja machten.

Damals, als wir genug hatten von allem. Genug von perfektem Leben, genug von der Schweigsamkeit, genug vom Druck.

„F. ist abgehauen", sage ich aus heiterem Himmel. Er hatte wohl genug.

„Wir waren feiern am Freitag, oder war es Samstag? Na ja, egal ... Da sagte er, dass er abhauen möchte." Ich sehe aus dem Fenster. „Er hat's wirklich getan." Pause. „Wir wissen nicht, wo er ist – niemand weiß es. Er hat sein Handy ausgemacht und ist einfach weg."

„Ist F. in die Sache verwickelt?"

„Ja."

Wir sind alle in die Sache verwickelt.

„Denken Sie, er hat Sie und ihre Freunde im Stich gelassen?"

Ich schüttle den Kopf. „Vielleicht braucht er einfach etwas Abstand."

„Brauchen Sie den auch?"

Bald heiratet Emma ihren Louis. Louis, den ich in den Arsch ficke, wann immer ich will.

„Ich weiß nicht." Ich zucke mit den Schultern. „Bald ist die Hochzeit meiner Schwester."

Der Psychiater nickt, schreibt wieder irgendwas auf.

„Ist das Verhältnis zu Ihrer Schwester besser geworden?"

Wir hatten noch nie ein gutes Verhältnis. Emma war mein Problem. Mein Problem, mit dem ich mir sogar den Uterus hatte teilen müssen. Sie hatte mir mein gesamtes Leben lang immer wieder alles genommen, alles für sich beansprucht.

Und jetzt ficke ich Louis in den Arsch, wann immer ich will.

Und sie kann nichts dagegen tun.

Vielleicht mache ich das für den Rest meines Lebens? Und irgendwann, wenn sie alt ist, schon Enkel hat und an Louis' Grab trauert, dann werde ich ihr erzählen, wie es sich angefühlt hat, wenn ich in seinem Mund abgespritzt habe.

„Ich denke, ich werde nicht mehr hierherkommen", sage ich.

Mein Psychiater schaut mit einem Mal besorgt. „J.. Nehmen Sie Ihre Medikamente noch?"

Nein.

Finden Sie mich etwa wahnsinnig?

Der Club der WichserWo Geschichten leben. Entdecke jetzt