30. Der Wahnsinn wird regieren

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[J.]

Anja trägt eine hellblaue Bluse, die sie sorgfältig in die Hose ihres Hosenanzugs gesteckt hat. Eine kleine silberne Herz-Kette liegt um ihren Hals und ihre dünnen braunen Haare sind im Nacken zu einem Pferdeschwanz gebunden, aus dem einige Strähnen fallen, weil sie zu kurz sind, um unters Gummiband zu passen.

Sie sitzt mir gegenüber in einem sauberen Raum mit klassisch grau-blauem Teppichboden, einem weißen Sperrholztisch und Stühlen, deren Polster zur Farbe des Teppichs passen.

„Es freut mich, dass Sie freiwillig zur Vernehmung erscheinen. Das erspart eine Menge Aufwand."

Sie lächelt – steht ihr.

„Scheint, als wollen Sie mich wirklich dringend sprechen", sage ich und erwidere ihr Lächeln.

„Zuallererst möchte ich Sie darauf hinweisen, dass es Ihnen freisteht, sich nicht zu Fragen zu äußern. Sie dürfen jederzeit einen Verteidiger befragen, die Beweiserhebung beantragen und jede Aussage verweigern." Sie wirkt ernster. „Es handelt sich hier aber nicht um einen Tatverdacht gegen Sie." Anja räuspert sich, sieht auf die Akte vor sich und dann wieder zu mir. Sie lächelt höflich.

„Bereit?"

Ich nicke.

Bereit war ich schon vorhin, als meine Personalien aufgenommen wurden.

Bereit war ich schon, als ich den Brief bekommen habe.

Bereit war ich schon immer.

„Kennen Sie F.?"

„Ja."

„Kennen Sie ihn gut?"

„Sehr gut sogar." Ich lächle und lehne mich etwas im Stuhl zurück. „Wir sind wie Geschwister."

Die Tabletten haben mich so benebelt, dass ich vergessen habe, was meine Bestimmung ist und immer war.

Ich will, dass der Druck stirbt. Ich will, dass er erstickt. Ich werde gegen ihn gewinnen und dann, dann werden wir ihn nie wieder spüren müssen.

„Du wirst dich niemals, verdammt nochmal niemals, so frei fühlen wie in dieser Nacht", hat F. prophezeit an dem Wochenende, an dem wir Ronja ihren Willen zu leben nahmen.

Ich will freier sein als an diesem Wochenende, als in diesem Moment, in dem uns kurz die Welt gehörte.

Ich kann es spüren. Wir sind so kurz davor, Legenden zu werden und F. werde ich zur größten machen. Zu einem Helden, zu unserem König, der über den Wahnsinn regieren wird.

„Können Sie mir etwas über ihn erzählen?", fragt Anja.

„Natürlich. Er ist ein ziemliches Arschloch, hat ein Drogenproblem und ist allgemein ein schwieriger Mensch. Mittlerweile ist es so schlimm, dass ich eigentlich versuche, mich von ihm zu distanzieren."

Sie nickt verständnisvoll. „Nimmt er nur Drogen oder verkauft er sie auch?"

„Ich glaube, er verkauft sie auch – aber im großen Stil mit so einem bulgarischen Clan", plaudere ich aus. „Aber das ist es gar nicht, was ihn so schwierig macht."

„Was macht ihn denn ‚schwierig'?"

„Er kann sehr aggressiv und gewalttätig werden." Ich presse die Lippen aufeinander. „Er kokst auch wahnsinnig viel und manchmal, da schmeißt er auf Partys Mädchen was in die Drinks." Ich sehe bedrückt zur Tischplatte, als wäre es mir unangenehm, das zu erzählen. Dabei hilft er nur O. gegen seinen Druck, wie ein barmherziger Samariter.

„Verstehe. Machen Sie mit? Schließlich stehen sie sich ja nahe."

Gespielt schockiert sehe ich sie an. „Auf keinen Fall! Ich versuche ihn sogar davon abzuhalten, wollte ihn schon in die Entzugsklinik stecken, aber er weigert sich und früher ..." Pause. „Früher war er nicht so schlimm. Das kam alles erst mit dem Koks."

Sie nickt wieder.

„Wie äußert sich sein aggressives Verhalten?"

Ich lächle, falle eine Sekunde aus meiner Rolle. „Er schlägt zu, wenn ihn etwas zerstört. Das kann alle treffen – seine besten Freunde, seine Freundin, Unschuldige."

Ich tue das hier nur für dein Bestes, F.. Nur so kannst du unser König werden.

„Wie heißt seine Freundin?"

„Charlotte heißt sie. Sie können sie auch fragen, aber ich glaube, die wird da nicht drüber reden. Das Mädchen ist krank im Kopf – fast so krank wie er." Und Ballast. Charlotte wird ihn immer unter Druck setzen. Charlotte ist Druck. Und Druck muss gelöst werden.

Anja nickt und gibt ein Mhm von sich. „Kennen Sie Marie Van Lorenz?"

Ich schüttle den Kopf. „Nie gehört."

„Sicher?"

„Hat er ihr was angetan?"

Jetzt runzelt sie die Stirn. „Wie kommen Sie darauf?"

Ich zucke mit den Schultern. „Der ist jemand, der Mädels auf Partys Roofies in den Drink mischt, sie auf dem Klo fickt und dann bewusstlos zurücklässt. Solche Leute sind doch zu allem fähig", erkläre ich und muss mir ein weiteres Lächeln verkneifen.

Um ein legendärer König zu sein, ein Anführer im Krieg gegen den Druck, braucht es eine legendäre Geschichte. Ich gebe ihm diese Geschichte, mache ihn zum Märchenprinzen, der alle bösen Drachen besiegt und wir, M., O. und ich, wir werden seine Tafelritter.

Alle gemeinsam werden wir den Druck töten und den Wahnsinn regieren lassen.

„Das mag sein. Wieso erzählen Sie mir das alles?"

„Weil ich finde, dass er eingesperrt gehört und ich gerne dabei helfen würde, weil ich glaube, dass ihm sonst nichts mehr helfen wird."

Sie lässt es unkommentiert.

„Wissen Sie, wo er sich momentan aufhält?"

„Nein, tut mir leid. Er ist seit ein paar Tagen weg – geht auch nicht ans Handy oder so. Kann mir vorstellen, dass er an einer Überdosis gestorben ist", erzähle ich. Ist er nicht. Ein König stirbt nicht.

„Ist das für Sie wirklich vorstellbar?"

„Leider ja; wie gesagt, er kokst unglaublich viel und wenn er Stress hat, dann wird er unberechenbar", sage ich bedrückt.

„Dann hoffen wir auf das Beste." Sie lächelt mich aufmunternd an.

Das Beste wird noch passieren.

„Ich bedanke mich für Ihre Mithilfe. Wir melden uns, wenn wir noch weitere Fragen haben", sagt Anja, steht auf und schüttelt mir die Hand.

„Gerne, gar kein Problem", versichere ich.

„Einen schönen Tag noch, J.."

Der Club der WichserWhere stories live. Discover now